Frauen - willige Opfer der Medizin?
Früherkennung, Hormone, Geburtsmedizin auf dem Prüfstand kritischer Wissenschaft
- Wege zu einer zeitgemässen Praxis


Autor: Prof. Arthur E. Imhof
Keywords: Frauenheilkunde, evidence based medizine, klinische Forschung, Medizinkritik, Patienteninformation, Evaluation, Lebenserwartung, Sterben, Ars Moriendi 
Abstract:
Copyright: Texte: Stiftung PARACELSUS HEUTE
HTML-Gestaltung:  Bernhard Harrer Wissenstransfer

Autoren
Begrüßungen
Die alterndeFrau

Prof. Elina Hemminki,
Hormone nach der Menopause - Nützliche Prävention oder umstrittenes Geschäft?
Regina Stolzenberg,
Wie entstehen Menopause-Symptome? - Das Erleben der Wechseljahre im transkulturellen Vergleich
Dr. Misha Cohen,
Wechseljahrbeschwerden im Lichte der traditionellen chinesischen Medizin
Prof. Arthur E. Imhof,
Erfüllt leben, in Gelassenheit sterben - Der moderne Wahn, dem Tod ein Schnippchen schlagen zu können
Die schwarze Madonna/Theater
Die schwangere Frau
Die krebsgefährdete Frau
Moderne Medizin

Erfüllt leben, in Gelassenheit sterben - Der moderne Wahn, dem Tod ein Schnippchen schlagen zu können

Prof. Arthur E. Imhof
Fachbereich Geschichtswissenschaften, Freie Universität Berlin / Deutschland

Unser Vorhaben, das das Bundesministerium für Familie und Senioren am Fachbereich Geschichtswissenschaften der Freien Universität Berlin von Mitte 1990 bis Mitte 1994 förderte, stand unter dem Titel: «Die Zunahme der Lebensspanne seit 300 Jahren und ihre Folgen». Zugrunde liegen zudem neu erstellte, umfangreiche Datenbanken, die bei Abschluss des Vorhabens komplett dem hierfür zuständigen Zentralarchiv für Empirische Sozialforschung in Köln zur weiteren Betreuung übergeben wurden. Sämtliche Materialien sind dort nun allgemein zugänglich (Bachemerstrasse 40, D-50931 Köln). Sie können von jedermann in bereinigter, benutzerfreundlich dokumentierter Form auf den üblichen Datenträgern entweder insgesamt oder massgeschneidert für bestimmte Fragestellungen abgerufen werden, die mit der Entwicklung der Lebenserwartung bei der Geburt oder in welchem anderen Alter auch immer für Generationen gleichzeitig geborener oder gleichzeitig gestorbener Männer oder Frauen in Deutschland vom 17. Jahrhundert bis heute zusammenhängen.

Da die skandinavischen Staaten diesbezüglich über das weltweit beste und detaillierteste Quellenmaterial verfügen (der Vorläufer des ersten Statistischen Zentralbüros nahm seine Tätigkeit 1749 in Stockholm auf), wurde zu Vergleichszwecken eine Reihe wichtiger Datenreihen aus Norwegen und Schweden mitaufgenommen.

Das Vorhaben beschäftigte sich mit den Folgen der Lebensspannenzunahme seit 300 Jahren, nicht den Ursachen.
 

Zunahme der Lebensspanne seit 300 Jahren

Befragen wir die erwähnten Datenbanken, wie gross die Lebenserwartung zum Beispiel vor zweieinhalb Jahrhunderten gewesen sei, wird uns der Computer für die Periode 1740-1749 und die Region Ortenau (eines der intensiv untersuchten Gebiete in Südwestdeutschland) auf dem Monitor anzeigen: Bei der Geburt für Knaben durchschnittlich 33,28 Jahre, für Mädchen 33,01 Jahre. In den späten 1980er Jahren waren es im früheren Bundesgebiet dagegen 72,21 für Knaben und 78,68 für Frauen (zum Vergleich in Schweden 33,72 und 36,64 Jahre damals zu 74,37 und 80,22 Jahren heute). Der «Mann auf der Strasse» fühlt sich in seiner Meinung bestätigt und sagt selbstbewusst: «Unsere Lebenserwartung hat sich seit dem 18. Jahrhundert mehr als verdoppelt.»

Natürlich hat der Computer mit seiner Antwort «recht». Nur war unsere Frage nicht klug gestellt. Wir fragten ihn mit «heutigen Augen». Heute trifft zu, dass die durchschnittliche Lebenserwartung grosso modo mit der tatsächlichen übereinstimmt. Wir können einigermassen damit rechnen, das uns vorausgesagte Alter auch lebend zu erreichen. Ein «durchschnittliches» Sterbealter für Frauen von derzeit 79 Jahren kommt heute vielleicht dadurch zustande, dass die eine Frau 82 Jahre alt wird, die andere «nur» 76. Seinerzeit verhielt sich dies grundsätzlich anders. Ein damaliger «Durchschnitt» von 33 Jahren mochte dadurch zustande gekommen sein, dass das eine Mädchen gleich nach der Geburt verstarb, während eine andere Frau 66 wurde. Wie hätte es auch möglich sein sollen, bei einer «allgemeinen» Lebenserwartung von nicht einmal 35 Jahren genügend Nachwuchs selbst für die blosse Bestandserhaltung der Bevölkerung zu bekommen, ganz zu schweigen von den Schwierigkeiten für das normale Funktionieren einer Gesellschaft. Im «Durchschnittsalter» von 30, 35 Jahren starb damals kaum jemand. Viele verstarben dagegen wesentlich früher, andere bedeutend später. Sie, die letztgenannten, sorgten für das Funktionieren der Gesellschaft; sie sorgten für genügend Nachwuchs.

In der Regel brauchte es damals zwei Geburten, um einen Erwachsenen zu ersetzen. Nur die Hälfte oder ein Drittel der Neugeborenen schaffte es bis zum 20. Lebensjahr. Ein Viertel starb schon während der ersten zwölf Monate im Säuglingsalter. Für diejenigen, die dagegen ihren ersten Geburtstag erreichten, verbesserten sich die Lebensaussichten entsprechend. In den 1740er Jahren betrug ihre Gesamtlebenserwartung (auf unsere sämtlichen sechs Untersuchungsgebiete Ortenau, Herrenberg, Saarland, Schwalm, Hartum und Ostfriesland bezogen) im Durchschnitt 45,75 Jahre für Knaben und 45,77 Jahre für Mädchen (Schweden: 43,06 und 45,65 Jahre). Und gehen wir gar bis zu den 25jährigen, was etwa dem damaligen Heiratsalter entsprach, so betrug deren Gesamtlebenserwartung 60,50 Jahre bei den Männern und 60,55 Jahre bei den Frauen. Nur zählte im allgemeinen eben bloss noch die Hälfte eines Jahrganges hierzu. Die andere Hälfte ruhte dann längst auf den Friedhöfen.

Schon nach diesen wenigen differenzierenden Ausführungen wird jeder selbst zum richtigen Schluss kommen, dass damals «Grossfamilien» mit mehreren Generationen unter einem Dach Ausnahmen waren und nicht die Regel sein konnten. Woher hätten auch die zur massenhaften Bildung von Mehrgenerationenfamilien notwendigen Gross- und Urgrossväter und -mütter kommen sollen? Aus dem gleichen Grunde wäre es ein aussichtsloses Unterfangen, aus der Geschichte generelle Schlüsse oder gar «Lehren» ziehen zu wollen, wie frühere Generationen «mit ihren Alten» umgegangen seien. Die relativ seltenen Ausnahmen von ehedem würden hierfür eine viel zu schmale Basis bilden. Halten wir uns diesbezüglich immer vor Augen, dass der massenhafte Durchbruch des Dritten Alters eine junge Erscheinung ist, noch keine vierzig Jahre alt. In Deutschland, ehemals West wie Ost, erreicht erst seit 1955 zumindest die Hälfte eines Jahrgangs ihr sechzigstes Altersjahr.
 

Verschiedene Arten von «Lebenserwartung»

Mit «unterschiedlichen Lebenserwartungen» ist jedoch nicht nur die Tatsache gemeint, dass in früheren Zeiten jeder unserer Vorfahren - im Gegensatz zu heute - seine ganz individuelle kürzere oder längere Spanne fern jedes «Durchschnitts» zu leben hatte, sondern die Fachleute - das sind hier die Demographen, speziell die Historiker-Demographen - kennen darüber hinaus ganz unterschiedlich definierte Arten von Lebenserwartungen. So können wir zum Beispiel, unabhängig von den da oder dort tatsächlich gelebten Lebensspannen, ja im Gegensatz zu ihnen, danach fragen, wie lange Menschen eigentlich leben könnten, wenn sie nicht dauernd - was bei unseren Vorfahren ähnlich wie bei den meisten Menschen noch heute in vielen Entwicklungsländern offenbar permanent passierte - zu früh stürben. Welche Lebensspanne hält die Natur für uns, für die Spezies Mensch bereit? Wo endet unsere Lebenshülse? Auf welcher Höhe befindet sich das Dach, das der «Zunahme unserer Lebensspanne» früher oder später ein Ende setzen muss?

Wovon bis jetzt einzig die Rede war, wird unter Historiker-Demographen als «ökologische Lebenserwartung» bezeichnet. Die permanenten Auswirkungen von Pest, Hunger und Krieg führten ununterbrochen zu einer enorm breiten Streuung der Sterbealter, wobei der «Durchschnitt» eher bei dreissig als bei vierzig Jahren lag. Die Säuglings- und Kindersterblichkeit zogen ihn kräftig nach unten. Was sich vor diesem Hintergrund im Verlauf der letzten drei Jahrhunderte vollzog, ist eine kontinuierliche Zurückdrängung der alten Pestilenzen, das heisst seuchenbildenden Infektionskrankheiten, der häufigen Missernten und - seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges - kriegerischer Ereignisse auf unserem Boden. Infolge dessen stieg das durchschnittliche Sterbealter und bündelte sich schliesslich immer mehr auf sehr hohem Niveau. Heute liegt es mit Bezug auf die Männer bei merklich über 70 Jahren, auf die Frauen bei knapp unter 80. Da der Anstieg nach wie vor anhält, ist der Freiraum bis zum Dach offenbar noch nicht ganz ausgeschöpft. Wir sterben im allgemeinen immer noch etwas zu früh. Insofern gehören auch wir nach wie vor zu den «Entwicklungsländern».

Im Unterschied zur ökologischen Lebenserwartung sprechen Fachleute von physiologischer oder biologischer Lebenserwartung, wenn sie die «durchschnittliche maximale Lebenserwartung der Spezies Mensch» im Auge haben. Will man von einem Historiker-Demographen wissen, wo diese Dachlatte denn läge, kann er seine Datenbanken zum Beispiel danach befragen, welches die restliche Lebenserwartung von 80jährigen Männern und Frauen zu verschiedenen Zeitpunkten gewesen war, das heisst von Menschen, die alle Pestilenzen, Hungersnöte, Kriegswirren heil überstanden hatten. Vor zweieinhalb Jahrhunderten betrug diese Restlebenserwartung, wiederum bezogen auf sämtliche deutsche Untersuchungsgebiete, für Männer bei 3,64 und für Frauen bei 5,48 Jahren (in Schweden bei 4,60 und 4,76 Jahren). Diese Zahlen haben sich zwischenzeitlich zwar etwas erhöht, vergleichsweise aber in sehr bescheidenem Ausmass. Heute haben 80jährige Männer (bezogen auf das Gebiet der ehemaligen Bundesrepublik Deutschland) durchschnittlich noch 6,06 weitere Jahre zu leben, Frauen noch 7,57 (in Schweden 1986/1990: 6,49 und 8,23 Jahre). Für «übriggebliebene» Achtzigjährige hat sich im Verlauf der letzten Jahrhunderte somit relativ wenig verändert. Mitte des 18. Jahrhunderts lag ihre Gesamtlebenserwartung im allgemeinen bei etwas unter 85, heute bei etwas über 85 Jahren. Historiker-Demographen sind deshalb geneigt, diese sich konstant abzeichnenden 85 bis 90 Jahre als die «durchschnittliche maximale Lebenserwartung» von uns
Menschen zu betrachten.

Durchschnittliches Maximum heisst gleichzeitig allerdings auch, dass im Einzelfall erhebliche Abweichungen möglich sind. Ausnahmemenschen dürften schon mal 110, 120, vielleicht 125 Jahre alt werden. Über allenfalls genetisch manipulierte Ausweitungen unserer durchschnittlichen maximalen Lebensspanne «in Zukunft» hat der Historiker-Demograph dagegen nicht zu spekulieren.
 

Stagnierende und rückläufige Lebenserwartungen

Vergleicht man die dreihundertjährige Entwicklung einer steigenden ökologischen Lebenserwartung mit der quasi konstant gebliebenen physiologischen, so könnte man leicht zum Schluss kommen, dass die erste ebenso zielstrebig wie kontinuierlich die Grenzlinie der zweiten zu erreichen suchte. Tendenziell ist diese Feststellung sicher richtig, im Detail jedoch nicht. Eine einmal von Männern oder Frauen da oder dort in diesem oder jenem Zeitraum erreichte Lebenserwartung braucht keineswegs immer nur noch weiter anzusteigen. Sie kann ebenso gut für kürzere oder längere Zeit stagnieren oder sich wieder rückläufig entwickeln. Dass wir jetzt, am Ende des 20. Jahrhunderts, unsere historisch bisher höchste Lebenserwartung erreicht haben, bildet somit in keiner Weise eine Garantie dafür, dass das in Zukunft so bleiben muss. Es braucht auch keine spektakuläre Rückkehr von Pest (Aids), Hunger oder Krieg zu sein, die zu einer neuerlichen Abnahme führt. Die Gründe können subtiler sein und gegebenenfalls synergetisch negative Folgen zeitigen. Je nach den Ursachen können auch nur bestimmte Bevölkerungsgruppen, nur Männer oder nur Frauen, nur dieses oder jenes Alter, oder aber eine ganze Generation, ganze Regionen, Länder, Kontinente betroffen sein.

Ein augenöffnendes Beispiel ereignete sich hierzulande in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Infolge der raschen Industrialisierung und Urbanisierung kam es bei uns vielerorten zu einer massiven körperlichen Überlastung von Frauen und Müttern, auf dem Lande von Bäuerinnen, die plötzlich grosse Mengen an Lebensmitteln für Tausende hungriger Stadtmäuler zusätzlich bereitzustellen hatten, in der Stadt, wo sich Arbeiterinnen von früh bis spät in Fabriken abzuplagen hatten - alles neben Haus und Herd, neben der Familie, neben den Kindern. Was Wunder, dass es da wie dort gleichzeitig zu einem markanten Anstieg der Mütter- und Säuglingsmortalität sowie der Totgeburten mit einem entsprechenden Einbruch in der Lebenserwartung kam. Ein Rückgang der diesbezüglichen geschlechts- und altersspezifischen Übersterblichkeiten erfolgte erst, als die Hauptbetroffenen, Frauen und Mütter, ihr Schicksal in die eigenen Hände nahmen und, motiviert wie sie jetzt waren, jahrhundertealte, aber bis dahin nie systematisch angewandte Kenntnisse der Geburtenverhütung in die Tat umsetzten. Von einer Generation zu anderen ging die Zahl der Schwangerschaften und Geburten spürbar zurück. Frauen und Mütter setzten sich - und ihre Kleinen - nicht länger gleichermassen häufig den tödlichen Gefahren aus.

Im gleichen Kontext ist ebenso aufschlussreich, dass die heute um Jahre höhere Lebenserwartung von Frauen (trotz ihrer vielfach nach wie vor bestehenden Benachteiligung!) kein bloss biologisches determiniertes, sondern ein gesellschaftlich überformtes, historisch gewachsenes und somit auch wieder reversibles Phänomen darstellt. Gegen rein biologistische Erklärungsansätze spricht zum einen, dass die historische Demographie auch für vergangene Jahrhunderte grosse Unterschiede selbst in den ungefährdeteren vor- und nachprokreativen Phasen von Frauen nachweisen kann, und dass zum anderen neuere Daten aus den demographisch und gesellschaftlich fortgeschritteneren skandinavischen Ländern eine Rückbildung der geschlechtsspezifischen Unterschiede erkennen lassen.

Das umfassendere Erklärungsmodell geht hier somit von der Überlegung aus, dass jedem Individuum innerhalb eines zeitlich/räumlich für Männer und Frauen unterschiedlich vorformulierten kulturellen Kontextes bestimmte Möglichkeiten gegeben sind, Gesundheit zu erreichen (= «positive Freiheiten») beziehungsweise Ungesundheit zu riskieren (= «negative Freiheiten»). Die weitgehende Vorenthaltung letzterer schlug beziehungsweise schlägt in traditionellen Gesellschaften bei Frauen hinsichtlich ihrer Lebenserwartung stark positiv zu Buche, wohingegen sich im Zuge auch diesbezüglich grösserer Gleichberechtigung der Abstand wieder mindert. Erhärtet werden können diese Thesen einerseits anhand demographischen Materials für Deutschland vom 18. Jahrhundert bis heute (an Generationen gleichzeitig geborener Männer und Frauen), andererseits in vergleichenden Parallelstudien aufgrund des einzigartigen demographischen Materials aus Skandinavien.
 

Folgen von Lebenserwartungen

Beginnen wir erst einmal über unterschiedliche Lebenserwartungen nachzudenken, führt uns dies alsbald in noch tiefere Dimensionen. Nur weil wir die Zahlen schwarz auf weiss sowie computerberechnet auf Punkt und Komma vor uns haben, sind wir oft zu rasch geneigt, den «harten Daten» blindlings zu trauen. Dabei müssten uns doch schon die täglichen weltweiten Fernsehinformationen vor solcher Naivität bewahren. Wem käme es zum Beispiel in den Sinn, einen vor Gesundheit strotzenden, nie ernstlich gefährdeten 50jährigen Westeuropäer «im besten Alter» mit einem 50jährigen, von andauernder «Pest-Hunger-Krieg»-Präsenz zutiefst gezeichneten Zentralafrikaner zu vergleichen und zu behaupten, beide wären - abgesehen vom selben Geburtsjahrgang - «gleich alt»? Da mag sogar eine rüstige Schwedin mit ihren 80 Jahren vergleichsweise jünger sein als eine halb so alte ausgemergelte Frau aus dem Tschad.

Was wir jedoch hier horizontal als «history live» vor uns haben, können wir auch vertikal, das heisst geschichtlich auslegen. Wir müssen uns dann fragen lassen, was wir eigentlich miteinander vergleichen, wenn wir Lebenserwartungen aus dem 18. Jahrhundert bei uns mit Lebenserwartungen des ausgehenden 20. im gleichen Gebiet miteinander in Beziehung bringen, zum Beispiel 70jährige damals und 70jährige heute. Die Inhalte dieser metrisch gleich langen Leben unterscheiden sich weitestgehend voneinander.

Nicht anders verhält es sich noch heute, wo eine Lebenserwartung von 80 Jahren für einen Universitätsprofessor schwerlich dasselbe bedeutet wie für einen «gleich alt» werdenden Bergwerksarbeiter, von ihren Frauen ganz zu schweigen. Nicht weiter hinterfragte, vermeintlich «harte» Daten sind ganz dazu geeignet, uns Sand in die Augen zu streuen.

Sie tun das noch in einer weiteren Hinsicht. Die Behauptung mag sich nur im ersten Augenblick überspitzt formuliert anhören, wonach unsere Lebenserwartungen während der letzten dreihundert Jahre keineswegs zu-, sondern im Gegenteil um ein vielfaches abgenommen habe. Für die meisten unserer Vorfahren im christlichen Abendland bestand das Leben nämlich aus zwei Teilen: Einem mehr oder weniger kurzen auf Erden, und einem ungleich wichtigeren, unendlichen Teil im Jenseits. Parallel zu den wachsenden Erfolgen gegen den vorzeitigen Tod vollzog sich bei uns eine andere Entwicklung, die bei vielen zum Verlust des Glaubens - auch an Auferstehung und ein ewiges Leben - führte. Während sich die irdische Spanne somit verdoppelte, fiel die ewige Fortsetzung weg. Die gesamte Lebensspanne ist dadurch unendlich viel kürzer geworden. Der irdische Teil ist das einzige, was uns geblieben ist. Dadurch erfuhr er eine ungeheure Aufwertung - und mit ihm der Körper als Vehikel. Mühelos verdrängten die Krankenhäuser mittlerweile die überflüssig gewordenen Kathedralen.

Befragen wir die Daten nicht allzu naiv und geben uns nicht mit vordergründigen Antworten zufrieden, dann sind die Folgen des - um die Zunahme und Bündelung des Sterbealters auf hohem Niveau anders auszudrücken - Wandels von der unsicheren zur sicheren Lebenszeit fast unübersehbar vielfaltig. Manche davon nehmen wir noch gar nicht richtig wahr oder deuten sie inadäquat. Ein Zeichen dafür ist zum Beispiel, dass viele die «Zunahme der Lebensspanne und ihre Folgen» noch häufig unbesehen in die Kategorie «Altersprobleme» einordnen beziehungsweise dorthin abschieben, als ob etwa der eben erwähnte Verlust des Glaubens (an die Ewigkeit), überhaupt einer kohärenten Welt- und Jenseitsanschauung in erster Linie ein Altersproblem wäre.
 

Aussichten für alle auf ein langes Leben

Zunahme des durchschnittlichen Sterbealters und dessen Bündelung auf hohem Niveau heisst zuerst einmal, dass nun praktisch alle Geborenen - ganz anders als früher - eine Kindheit und eine Jugend haben, und dass sie die verschiedenen Phasen des Erwachsenenlebens durchlaufen, alles bevor sie älter und schliesslich alt werden. Wir können erstmals mit grösserer Wahrscheinlichkeit denn je von früher Jugend an mit dem Erreichen der uns vorhergesagten durchschnittlichen verlängerten Lebensspanne rechnen, können unser Leben erstmals von einem relativ kalkulierbaren Ende her gestalten. Es lohnt sich für uns in jeder Weise, in dieses aller Voraussicht nach lange Leben von Anfang an zu investieren, körperlich, geistig, seelisch, musisch, natürlich auch ökonomisch.

Wir sollten das aus dem einfachen Grunde auch tun, weil «aller Voraussicht nach» ebenso beinhaltet, dass wir nun - weil Gegensatz zu unseren Vorfahren - mit den Eventualitäten der späten Jahre zu rechnen haben. Je älter wir werden, um so grösser wird die Wahrscheinlichkeit, dass wir zuerst hilfs-, dann pflegebedürftig werden, alles noch, bevor man uns gegebenenfalls institutionalisiert und wir schliesslich sterben. «Lebenserwartung», gemessen in Anzahl durchlebter Jahre, und «behinderungsfreie Lebenserwartung» sind zwei verschiedene Dinge. Unsere Vorfahren hatten zwar ein unsicheres, stets von Pest, Hunger und Krieg überschattetes und daher mehr oder weniger kurzes Leben. Da die häufigsten Todesursachen jedoch aus einer Handvoll wichtiger Infektionskrankheiten - Pest, Pocken, Fleckfieber, Cholera, Bauchtyphus und einigen anderen - bestanden, war der Sterbeprozess in aller Regel ebenfalls kurz und, im Vergleich zu heute, gnädig. Wir haben zwar ein sicheres und damit im allgemeinen ungleich längeres Leben. Durch die hierbei zugrundeliegende Eliminierung der alten Infektionskrankheiten sind wir aber nicht unsterblich geworden. Die früher chancenlosen chronischen Leiden - allen voran Herz-Kreislaufkrankheiten sowie bösartige Neubildungen - teilen sich nun die Beute mit Erfolg neu auf. Wir haben die längere Lebensspanne mit einem nicht selten nun ebenfalls ungleich längeren Sterbeprozess zu bezahlen.

Weil heute praktisch alle Neugeborenen überleben, brauchen wir auch nicht mehr die doppelte Zahl von Kindern zu «produzieren», damit wenigstens die Hälfte von ihnen ins heiratsfähige Alter kommt und für die weitere Bestandserhaltung sorgt. Logischerweise ist die Kinderzahl denn auch drastisch zurückgegangen, was wiederum zur Folge hat, dass sich mehr und mehr Frauen auch ausserhalb von Haus und Herd beruflich und sozial «verwirklichen» können.

Bezüglich dieser Selbstverwirklichungstendenz sind allerdings die bereits eingetretenen beziehungsweise stets deutlicher werdenden Konsequenzen des Wandels von der unsicheren zur sicheren Lebenszeit noch weitaus tiefgreifender und fundamentaler. Das egozentrische Streben nach Selbstverwirklichung, Unabhängigkeit, Ungebundenheit existiert im Abendland seit Jahrhunderten. Zumindest seit der Renaissance versuchen wir mit Macht, alte ungeliebte Fesseln von uns zu streifen, aus traditionellen Bindungen auszubrechen, auf eigenen Füssen zu stehen. Bis vor kurzem war dies jedoch immer nur einer kleinen Minderheit Privilegierter möglich. Die überwiegende Mehrzahl unserer Vorfahren hatte während all der Pest-, Hunger- und Krieg-Zeiten gar keine andere Wahl, als sich zwecks Überlebens in irgendeine Form von Gemeinschaft - Familie, Haushalt, Kloster-, Militärgemeinschaft usw. - einzufügen und gemeinsamen Zielen unterzuordnen. Der Bestand des Bauernhofes, des Klosters, der Truppe war wichtiger als die austauschbaren, mal zwei, mal zwanzig, mal fünfzig Jahre darauf oder darin lebenden Zugehörigen.

Wenn nun seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bei uns erstmals für so lange Zeit keine «Pest-Hunger-Krieg»-Zustände mehr herrschen, braucht es niemanden zu überraschen, dass eine wachsende Zahl von Zeitgenossen die einzigartige Chance wahrnimmt und sich in keine Zwangsgemeinschaft aus Überlebensgründen mehr einfügt. Zudem sind für die meisten Single-Willigen derzeit die wirtschaftlichen Voraussetzungen gegeben, von einem überbordenden Dienstleistungsangebot jeden nötigen Gebrauch - und mehr - zu machen. Von Fall zu Fall nach Lust und Laune sich entscheidende Teilzeit-Gemeinschafter brauchen zwecks physischer Existenzsicherung jedenfalls keinerlei langfristige Verpflichtungen auf Gegenseitigkeit mehr einzugehen. Sie überleben ohne diese genauso gut.
 

Der Wahn, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen

Von den insgesamt 79,75 Millionen Deutschen waren 1990 42,53 Millionen jünger als 40 Jahre. Mehr als die Hälfte (53,3%) aller Deutschen kam somit nicht vor 1950 auf die Welt. Erstmals kennt die breitere Öffentlichkeit die jahrtausendealte permanente Bedrohung durch «Pest, Hunger und Krieg» nicht mehr aus eigener Erfahrung, nicht mehr am eigenen Leib, sondern nur noch vom Hörensagen, aus Fernsehbildern, möglicherweise aus dem Geschichts- oder Geographieunterricht. Realität ist das für sie a priori nicht, obwohl die Realitäten manchmal schon wieder bedrohlich nahe kommen und geeignet sind, viele unter uns an der Dauerhaftigkeit jenes «Wandels von der unsicheren zur sicheren Lebenszeit» zweifeln zu lassen. Historiker wissen nur zu gut, dass bislang kein Zustand ewig anhielt. Noch ist es jedoch immer der Tod und das Leid von anderen, wovon wir hören und was wir in der Tagesschau sehen, nicht mein Sterben, nicht meine Vergänglichkeit.

Die quasi logische Folge hiervon ist, dass sich erstmals ganze Generationen «ein bisschen unsterblich» fühlen dürfen, und dies sogar «mit einem gewissen Recht». Wir brauchen den Tod gar nicht, wie man häufig beklagend hören kann, zu verdrängen. Während Jahren wird er höchst effektiv von uns ferngehalten. Stösst uns dennoch einmal etwas Ernsthaftes zu, werden wir in aller Regel prompt und zuverlässig repariert. Vielfaltige Präventionskampagnen suggerieren zusätzlich Unsterblichkeit. Bei noch mehr Joggen, noch weniger Rauchen, Trinken von nur noch fettarmer Milch oder Mineralwasser müsste es doch endlich möglich sein, den Tod ganz aus der Welt zu schaffen - wenigstens bei uns, wo wir dem Ziel schon jetzt näher denn je sind.

Wenn Menschsein darin besteht, die in uns von Anfang an angelegte Spannung zwischen Werden und Vergehen zu akzeptieren, auszuhalten und aushaltend zu gestalten, ist diese Art von Prävention, sind manche Ziele des heutigen Medizinalbetriebes und damit verbunden viele unserer Einstellungen und Attitüden unmenschlich, weil sie eine fundamentale conditio humana nicht wahrhaben wollen, weil sie unsere Sterblichkeit negieren. Eine Rückbesinnung auf die menschlichen Grundgegebenheiten bei Professionellen wie Laien mit dem Ziel, das naturgegebene Ende unserer Existenz «zur rechten Zeit» vermehrt wieder für selbstverständlich zu halten und anzunehmen, würde zwangsläufig manch unangemessene Bemühung um Todesverhinderung überflüssig machen. Viel fragwürdig kostspielige Medizinintervention fiele dahin.
 

Erfüllt leben?

Unser Projekt hatte auch einen programmatischen Untertitel: «Gewonnene Jahre - verlorene Welten: Wie erreichen wir ein neues Gleichgewicht?» Was mit «gewonnenen Jahren» gemeint ist, wurde oben erläutert: Im Rahmen der uns von Natur aus eigentlich zustehenden physiologischen Lebenserwartung immer mehr Jahre für immer mehr Menschen, was zu einer Anhebung und Bündelung des durchschnittlichen Sterbealters auf einem nie zuvor erreichten hohen Niveau führte. Worauf die «verlorenen Welten» abzielen, wurde zumindest zweimal angedeutet. Zum einen verlief - gegenläufig zur Zunahme des durchschnittlichen Sterbealters - eine Reduzierung der ehedem unendlichen Lebensspanne (Diesseits plus Fortsetzung im Jenseits) auf den kümmerlichen irdischen Rest. Damit verbunden war der Verlust einer zuvor allumfassenden Welt- und Jenseitsanschauung. Zum anderen lockerten sich mit dem Wandel von der unsicheren zur sicheren irdischen Lebenszeit die früher überlebensnotwendigen (Zwangs-)Gemeinschaftsbande. Aus freigesetzten Individuen wurden zunehmend Einzelgänger beziehungsweise - zur Befriedigung individuell egoistischer Wünsche - Teilzeit-Gemeinschafter. Während unsere Vorfahren somit gleich doppelt integriert, aufgehoben, abgesichert waren, wird von uns nach dem Verlust beider Integrationen nun auch gleich eine doppelte Selbständigkeit verlangt. Ob alle ihr gewachsen sind, ist fraglich. Psychiater haben Zulauf, Sekten auch.
Gemäss christlicher Weltanschauung war jeder Mensch in den Armen seines Schöpfers aufgehoben, mochte er im übrigen noch so verlassen, allein, einsam, von Pech, Unglück und Nachstellungen verfolgt sein. Die seelische Balance zu halten, dürfte damals vielen leichter gefallen sein als heute, wo uns dieses sichere Gefühl göttlicher Geborgenheit nicht mehr umfängt. Niemand steht länger jederzeit bereit, uns in guten wie vor allem in schlechten Tagen in die Arme zu schliessen, ein Gott schon gar nicht mehr. Und mochten die ehemaligen Gemeinschaften noch so sehr aus der Not geborene Zwangszusammenhalte und deshalb häufig schlechte Gemeinschaften sein, so waren es eben doch menschliche Gemeinschaften, Orte der Integration, des schützenden Aufgehobenseins, eines einigermassen ausgewogenen Gleichgewichts zwischen Geben und Nehmen. «Do, ut des»: «Ich gebe Dir [in Zeiten der Not] etwas, damit ich - egoistisch, nicht altruistisch - von Dir [in Zeiten der Not] etwas zurückbekomme.»

Gleichgewichtszustände gab es indes in früheren Zeiten noch weitere, die wir im Zuge unserer Lebensspannenexpansion ebenfalls ausser Kraft gesetzt und noch durch keine funktionierenden neuen ersetzt haben. Weiter oben war davon die Rede, dass vor zweieinhalb Jahrhunderten die Gesamtlebenslänge von erwachsenen Männern im heiratsfähigen Alter bei durchschnittlich 60,50, von Frauen bei 60,55 Jahren lang. Nicht nur bestand damals somit ein strukturelles Gleichgewicht zwischen männlicher und weiblicher Lebenserwartung ohne wesentliche Witwer- noch Witwenzeiten, sondern ein ebenso wichtiges zwischen den aufeinanderfolgenden Generationen. Das letzte von durchschnittlich sechs bis sieben Kindern brachten die Frauen damals mit 39, 40 Jahren zur Welt. Rechnet man zwanzig Jahre hinzu, bis die nächste Generation flügge war, kommt man auf die sechzig Lebensjahre der Eltern. Nach einem folglich bis zum Rand erfüllten Leben machten sie durch ihren Tod den Jungen Platz, wenn diese den Hof oder das Handwerk übernehmen konnten.

Aufgrund des Wandels von der unsicheren zur sicheren Lebenszeit ist es zum Zerbrechen dieses doppelten Gleichgewichts gekommen. Zum einen müssen die Mütter für dasselbe Ergebnis nicht mehr sechs bis sieben Kinder zur Welt bringen, sondern höchstens noch die Häffle; meist sind es noch weniger. Dadurch erfolgt die letzte Niederkunft eher im Alter von dreissig als von vierzig Jahren. Das letzte - nicht selten einzige - Kind verlässt somit das Haus, wenn die Mütter um die fünfzig sind. Zum anderen hat die Lebenserwartung erwachsener Männer und Frauen nicht nur generell stark zugenommen, sondern auch sehr unterschiedlich zwischen den Geschlechtern. Witwenschaften von rund zehn Jahren sind heute keine Seltenheiten. Neben diesem für viele Frauen neuen Faktum kommt es bereits zuvor zu einer mittlerweile nicht selten zwanzigjährigen «Gefährtenschaft im leeren Nest», die beiden, Männern wie Frauen, nun zu schaffen machen kann. Was fangen all die Männer und noch mehr die Frauen mit diesen sämtlichen gewonnenen Jahren an? Sind es für sie wirklich gewonnene, nicht bloss mehr oder weniger unfreiwillig dem Leben hinzugefügte Jahre? Keineswegs alle Betroffenen haben hier bereits eine neue Balance gefunden.
 

In Gelassenheit sterben - Ars moriendi

Eine frühere Balance haben wir jedoch auch auf ganz anderer Ebene verloren. Gemäss der seinerzeitigen christlichen Welt- und Jenseitsanschauung galt die
kürzere oder längere Lebensspanne hienieden als Vorbereitung auf die weitaus wichtigere Fortsetzung im Jenseits. Nach damaligen Vorstellungen entschied sich das Seelenheil definitiv jedoch oft erst im letzten Augenblick. Probleme ergaben sich hieraus insofern, als in jenen Seuchenzeiten häufig viele Menschen gleichzeitig starben und die professionell ausgebildeten Seelsorger-Sterbebetreuer somit bei weitem nicht jedem Darniederliegenden individuell beistehen konnten. Ganz abgesehen davon verschonten die Seuchen auch sie nicht; zudem wussten sie wie alle anderen, inklusive die «lieben Angehörigen», aus dutzendfacher Erfahrung und nächster Nähe um die tödliche Gefahr ansteckender Krankheiten. Kurzum: gestorben wurde immer wieder allein. Niemand konnte sicher sein, dass ihm nicht genau dieses Schicksal ebenfalls widerfahren würde.

Unsere Vorfahren zogen hieraus jedoch die Konsequenzen. Seit den 1460er Jahren erschien in immer neuen Auflagen eine nur elf Holzschnitte umfassende knappe Broschüre, genannt «Ars moriendi», das ist «Die Kunst des Sterbens». Jeder konnte darin ohne alle Lesekenntnisse verfolgen, wie man sämtlichen Anfechtungen des Teufels in der Sterbestunde bis zum letzten Atemzug siegreich widerstand (vgl. Abbildung 1: Die Anfechtung der Ungeduld). Das elfte Bild zeigte den glücklichen Ausgang um den Kampf der Seele. Ein Engel wartete schon, um sie nach inzwischen eingetretenem leiblichen Tod in Empfang zu nehmen und in die richtige Richtung - nach oben - dem Antlitz Gottes entgegenzugeleiten. Hatte man diese Kunst in jungen Jahren erst einmal gelernt, brauchte man sich vor dem Sterben, auch dem Sterben allein, nicht länger zu fürchten.

Wie nebenbei erhielten in diesem früheren System selbst «gewöhnliche» Krankheiten einen Sinn. Sie waren ein gnädiger Fingerzeig Gottes, rechtzeitig auf dem sündigen Lebenswandel einzuhalten, in sich zu gehen und umzukehren. Erneut zeichnet sich somit in historischer Zeit ein ausgewogeneres Verhältnis zwischen «Gesundsein» und «Kranksein» ab, als dies in heutiger Zeit der Fall ist, wo Gesundheitseinbussen allermeist nur noch negativ gesehen werden.
 

Auf der Suche nach neuen Gleichgewichten

Wer eine dreihundertjährige, in ihren Wurzeln noch wesentlich weiter zurückreichende Entwicklung überblickt, kommt unweigerlich zum Schluss, dass inzwischen manche der ehedem ausgewogenen und auf ihre Weise haltgebenden und sinnstiftenden Gleichgewichte zerbrochen sind und sie noch nicht überall durch neue ersetzt wurden:
Das Gleichgewicht bei der Generationenabfolge besteht nicht länger. Die ältere Generation stirbt nicht mehr hinweg um durch den Tod Platz zu machen, wenn die jüngere flügge ist. Was früher «automatisch» zu einem «erfüllten», wenn auch nur mässig langen Leben führte, nämlich das Gebrauchtwerden der Eltern bis die nachwachsenden Kinder selbständig waren, ist unter den heutigen ausgedehnten Lebensspannenbedingungen nicht mehr zwangsläufig der Fall. Häufig kommt es vielmehr erst zu einer etwa zwei Jahrzehnte dauernden «nachelterlichen Gefährtenschaft im leeren Nest», woran sich für viele Frauen nochmals eine Witwenschaftsdauer von etwa einem Jahrzehnt am Ende ihres Lebens anschliesst.
Die ehemals überlebensnotwendigen Gemeinschaftsbande mit langfristigen gegenseitigen Verpflichtungen haben sich im Zuge des Wandels von der unsicheren zur
sichern Lebenszeit gelockert oder vielfach ganz aufgelöst und einem zunehmenden Einzelgängertum Platz gemacht. Die hierdurch ermöglichte Selbstverwirklichung trägt bislang indes vielfach nur in guten Tagen und nur während der «besten Jahre» im Leben. Brechen schwere Zeiten an, geht es gar ans Sterben, wankt die Selbständigkeit und wird der nostalgische Ruf nach «wieder mehr Gemeinschaft» laut. Vergeblich, denn die Zeiten sind nicht länger so.
Viele haben die einstige Welt- und Jenseitsanschauung eingebüsst und sind dadurch nicht länger permanent und jederzeit in den Armen eines Schöpfers aufgehoben. Damit verloren auch Krankheiten ihren warnenden Sinn. Durch die Reduktion der ehedem unendlichen Lebensspanne auf die - zwar doppelt so vielen - irdischen Jahre ist zudem die einstige Ars moriendi als Vorbereitung auf ein gekonntes (gottwohlgefälliges) Sterben gegenstandslos geworden. Wir haben sie vergessen.
Dank der Bündelung unser aller Sterbealter auf hohem Niveau durch ein effektives und von vielerlei Präventivmassnahmen flankiertes Gesundheitserhaltungssystem vermochte sich in den «besten Jahren» ein «Unsterblichkeitsglaube» insofern auszubreiten, als wir dadurch unsere naturgegebene Endlichkeit, unser Sterben und unseren Tod weitgehend aus den Augen verloren haben. Als Folge ist bei manchen Professionellen wie Laien ein hybrides Streben nach späterer Todesverhinderung zu beobachten, eine Einstellung, die sich hierzulande angesichts des Euthanasie-Tabus nicht leicht wird entkrampfen lassen.

Fazit: der Historiker würde gar nicht so weit gehen, ein möglicherweise doch reichlich utopisches «Umdenken in der ganzen Bevölkerung» zu fordern, sondern sich damit begnügen, Augenmass anzumahnen, die Realitäten in der Welt und in der Geschichte zu sehen, das beste aus der heutigen Situation zu machen, dabei aus der Geschichte so viel zu «lernen», wie tatsächlich aus ihr zu lernen ist. «Erfüllt leben - in Gelassenheit sterben!» Dies erinnert weder an moralisierende «Memento mori!»-Appelle noch will es ein «schlechtes Gewissen» wachrütteln. Es hat weder etwas von einer asketischen Predigt an sich noch klagt er über gegenwärtige Zustände. Vielmehr rät es dazu, sich des langen heutigen und morgigen Lebens redlich zu freuen und es bewusst so erfüllt wie möglich zu gestalten, um es dereinst in grösserer Gelassenheit hergeben zu können.

Eines allerdings wird dabei deutlich: «Erfüllt leben - in Gelassenheit sterben» ist keine Ars moriendi für die Sterbestunde. Es bietet keinerlei Anweisung zum Gebrauch auf der Intensivstation. Das Konzept vom «erfüllten Leben», das zu einem «Sterben in Gelassenheit» wann auch immer, wo auch immer und in welcher Form auch immer führen soll, ist eine lebenslang ausgeübte Ars vivendi. Es ist die «Kunst vom gelungenen Leben» mit einem naturgegeben selbstverständlichen «Tod zur rechten Zeit».
 

Wer lehrt uns heute sterben?

Weder können noch wollen wir das Rad der Geschichte anhalten oder gar zurückdrehen. Wer möchte im übrigen schon mit den «Pest-Hunger-Krieg»-Zeiten von ehedem tauschen? Es würde nichts fruchten, zum Beispiel die alte Ars moriendi erneut in grosser Auflage unter die Leute zu bringen, nur damit auch wir das Sterben wieder lernten - was wir gewiss bitter nötig hätten. Niemand von uns wird in der Sterbestunde länger von Höllenmächten umzingelt, die mittels allerlei teuflischer Versuchungen unserer Seele habhaft werden möchten. Sehr wohl aber können wir, ohne den «Lehren aus der Geschichte» ungebührliches Gewicht beimessen zu wollen, uns überlegen, ob es sich nicht lohnen würde, gewisse Elemente von damals für neue, zeitgemässe Lösungen unter heutigen, meist ganz anderen Bedingungen zu übernehmen und angepasst weiterzuentwickeln.

War es etwa, um beim Beispiel der alten Ars moriendi zu bleiben, angesichts des damals häufigen Alleinsterbenmüssens eine so schlechte Idee, dass man ab jungen Jahren sich auf diese Situation vorbereiten sollte? Auch heute gehen viele unter uns die letzte Wegstecke wieder allein. Doch wer lehrt uns sterben?

Oder war es so abwegig von unseren Vorfahren, in Gesundheitseinbussen einen Sinn zu erkennen? Für uns haben sie jeden Sinn verloren, den ehemaligen Sinn als Fingerzeig Gottes schon gar. Wie wäre es, ihnen erneut einen Sinn einzuräumen, dies vielleicht sogar in präventiver Absicht? Wenn wir unsere Existenz als spannungsgeladene Frist zwischen Werden und Vergehen begreifen, werden wir gar nicht auf die Idee kommen, dass Leben aus einem permanenten Hochgefühl bestehen müsse und was davon abweiche, wäre «krank», ganz zu schweigen, dass wir den von Natur gesetzten Tod zur rechten Zeit verhindern wollten. Zwischenzeitliche Gesundheitseinbussen könnten zudem sehr wohl sinnstiftend wirken, weil sie uns an unsere menschlichen Grundbedingungen zu erinnern vermögen und uns Freiraum zum atemholenden Nachdenken verschaffen. Wann hätten wir das sonst schon?
 

Wie lernen wir leben?

«Erfüllt leben - in Gelassenheit sterben» setzt heute eine Art «Lebensplan» voraus. Was an unserer Situation sowohl im Vergleich zu allen bisherigen Zuständen in der Geschichte wie zu den Gegebenheiten sonstwo auf der Welt grundlegend neu und anders ist, ist die Tatsache, dass wir als erste und einzige unsere physiologische Lebensspanne mit grösserer Wahrscheinlichkeit denn je und als anderswo weitgehend zu Ende leben können. Die allermeisten von uns werden nicht nur das Dritte, sondern auch das Vierte Alter (jenseits etwa der 70, 75) erreichen. Ein Leben vom Ende her, oder anders gesagt: ein Langzeitentwurf als Lebensplan meint nichts weiter, als die Stärken und Schwächen jeder Altersstufe ab frühen Erwachsenenjahren in Erwägung zu ziehen, Geschmack an ihnen allen zu finden und vor allem die Eventualitäten der (sehr) späten Jahre nicht aus den Augen zu verlieren. Es genügt nicht mehr, sich immer nur für den nächsten Tag einzurichten; es ist zu spät, erst Ende des Dritten Alters an das Vierte zu denken.

Erfüllt nach einem Lebensplan leben bedeutet, vollen Nutzen aus unseren heute fast unendlichen Möglichkeiten zu dessen Ausgestaltung zu ziehen. Wir haben nicht nur eine der höchsten Lebenserwartungen auf der Welt, sondern wir verfügen ebenso über ungleich mehr oder bessere Chancen als die gesamte Zweite, Dritte, Vierte Welt, alle gewonnenen Jahre in erfüllte zu verwandeln. Niemand von uns nagt am Hungertuch und müsste sein ganzes Streben auf die Sorge richten, was er morgen zu essen hat. Niemand von uns ist von Bildung und Ausbildung ausgeschlossen. Wie nie zuvor und nirgendwo sonst haben wir Zugang zu allen erdenklichen Informationen, zu Wissen, zu Kultur jeder Art für jeden Geschmack, und dies alles weltweit.

Der zuletzt angeführte Hinweis auf unsere noch nie in vergleichbarem Ausmass dagewesene Mundialisierung dank globaler Instantinformationen wie weltweiter Reisemöglichkeiten kann in der hier gebotenen Kürze vielleicht am besten deutlich machen, was sich ein Lebensplan diesbezüglich zum Ziel setzen kann. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass sich die mittlerweile von uns allen geforderte grössere multikulturelle Aufgeschlossenheit am ehesten aus möglichst vielen, möglichst langen, möglichst intensiven Beziehungen zu den anderen Kulturen an Ort und Stelle ergibt.

Unter diesen anderen Kulturen steht die islamische für uns «christliche Abendländer» aus dem einfachen Grund ganz obenan, weil sich deren Gewicht im Verlauf des 21. Jahrhunderts zu einem nicht unerheblichen Teil auf unsere Kosten verdoppeln wird. Bis zum Jahre 2100 dürfte die christliche Weltbevölkerung von derzeit (1985) noch etwa 30 auf dann etwa 20 Prozent schrumpfen, die islamische dagegen von jetzt etwa 18 auf dann etwa 40 Prozent zunehmen. Aus verschiedensten, hauptsächlich physischen Gründen (Klima, Ernährung, Hygiene) werden Europäer die Kernländer des Islam aber zweckmässigerweise in ihren «besten Jahren», das heisst im zweiten Alter aufsuchen. Wer aufgrund wiederholter Aufenthalte an Ort und Stelle sowie vertiefender Vor- und Nachbereitungen jedoch Geschmack etwa an spezifisch islamischem Kunstgewerbe (Glas, Metall, Teppiche) oder gar an islamischer Kalligraphie als einer, jedes westliche Bemühen weit hinter sich lassenden Schreibkunst von unübertroffener Vollendung gefunden hat, der wird dieses in jungen Erwachsenenjahren geweckte und dann kontinuierlich gepflegte Interesse an Hervorbringungen der anderen Kultur und damit an dieser Kultur überhaupt auch im Dritten und Vierten Alter bei uns nicht nur beibehalten, sondern noch weiter vertiefen können, befinden sich Spitzenprodukte jener anderen Kultur doch in allernächster Nähe, in unseren grossen Bibliotheken, Galerien, Museen. Dort warten sie auf uns und sind selbst dann noch erreichbar, wenn jede Reise in islamische Tropen oder Subtropen ausserhalb des, einem 70-, 80jährigen Körper Zumutbaren liegt. Erst mit 70 daran zu denken, dass man auf diese Weise - durch das Fruchtbarmachen kultureller Schätze anderer Völker, Länder, Erdteile - auch die vorgerückten gewonnenen Jahre noch zu erfüllten machen könnte, käme viel zu spät. Das Zweite Alter hatte in einem Lebensplan-Langzeitentwurf die Möglichkeiten des Vierten vorwegnehmend mitberücksichtigt.

Der allfällige Einwand, ein solches Konzept sei zu «intellektuell», zu «elitär», zielt an den Realitäten vorbei. Der Lebensplan geht von der simplen Tatsache aus, dass viele Menschen, keineswegs nur Akademiker und Intellektuelle, im Vierten Alter länger über ungebrochene geistige Kräfte verfügen als über intakte physische. Der Langzeitentwurf versucht, dem drohenden «Sturz in die entsetzliche geistige Leere» vorzubeugen, wenn die körperlichen Möglichkeiten vor den intellektuellen abnehmen.

Ganz unerwartet wächst dem häufig noch etwas argwöhnisch betrachteten zunehmenden Single-Wesen vor diesem Hintergrund neuer Inhalt zu. Gerade wer aufgrund der heutigen Möglichkeiten und Chancen vermehrt global denkt und handelt, wird als Single plötzlich ganz neue Aufgabenfelder für sich entdecken - Aufgaben, denen gemeinschaftseingebundene Zeitgenossen sich so nicht widmen können. Gehen wir der Einfachheit halber vom Thema unseres Vorhabens aus, dann folgt uns praktisch die gesamte Zweite, Dritte, Vierte Welt mit kürzerer oder längerer Zeitverzögerung auf dem Fuss. Wer möchte den dort lebenden Menschen auch verübeln, den Wandeln von der unsicheren zur sicheren Lebenszeit mit der gleichen Macht anzustreben wie unsere eigenen Vorfahren, die Überwindung der alten Infektionskrankheiten, das Eindämmen vorzeitigen Strebens an vermeidbaren Todesursachen, das Erreichen einer standardisiert langen Lebensspanne für alle? Und was liegt näher, als dass sie von uns wissen möchten, warum wir das Ziel als erste erreicht hätten und wie wir mit möglicherweise neuentstandenen Problemen fertig würden.

Es braucht von unserer Seite dann jedoch nicht bei diesbezüglichen «Erklärungen» und «Ratschlägen» zu bleiben. Konkrete Hilfe kann dutzendfach von jedem geleistet werden. Zuhause freigestellte Singles könn(t)en als erste anpacken. Was sich für sie geändert hat, ist einzig, dass sie sich an ihrem üblichen Wohnort aus Überlebensgründen nicht länger in eine Familie, einen Mehrpersonenhaushalt, eine Wohngemeinschaft integrieren und sich den jeweiligen gemeinsamen Zielen unterordnen müssen. Verpflichtungen haben auch sie durchaus noch, nun zwar nicht mehr einer engen Gemeinschaft, sondern umfassender der Gesellschaft gegenüber. Wobei Gesellschaft auch Gesellschaft anderswo auf der Welt heissen kann. Global denken heisst global handeln.

«Erfüllt leben - in Gelassenheit sterben» meint schliesslich auch, die heute oft nur und nur für die «besten Jahre» ausreichende Selbständigkeit bis zum Ende auszuhalten. Wer gemäss einem Lebensplan ein insgesamt erfülltes Leben gelebt hat, wird sich schwerlich gegen Ende plötzlich anderen aufdrängen wollen. Wer aber erfüllt in sich zu ruhen vermag, wird die eigene Person kaum für so «wichtig» halten, dass andere sich dauernd darum kümmern müssten.
 

Ein zukunftsorientiertes Konzept

«Erfüllt leben - in Gelassenheit sterben» hat logischerweise in erster Linie Menschen mit dem Leben vor sich im Visier, das heisst jene Generationen, die heute erstmals mit grösserer Wahrscheinlichkeit denn je von Anfang an mit einem langen Leben bis ins Vierte Alter rechnen können, und die morgen und übermorgen dort ankommen werden. Es handelt sich folglich um ein in die Zukunft weisendes Konzept und um dessen sukzessive Realisierung gemäss einem Langzeitentwurf. Frauen und Männer, die heute schon im Dritten und Vierten Alter stehen, hatten ähnliche Chancen nie, weder was die relative Gewissheit eines langen Lebens von siebzig, achtzig und noch mehr Jahren betrifft noch die Möglichkeiten einer angemessenen Vorbereitung hierauf. Als Angehörige der Jahrgänge von etwa 1890 bis etwa 1930 kamen sie noch vor dem grundlegenden Wandel von der unsicheren zur sicheren Lebenszeit zur Welt. Sie wuchsen während des Ersten und Zweiten Weltkrieges heran, erlebten den Kohlrübenwinter, die Influenzapandemie, Zeiten grösster Depression in der Weltwirtschaftskrise, setzten auf den Trümmern das Wirtschaftswunder in Gang. Unsere Dankesschuld ihnen gegenüber gründet im Umstand, dass sie mit ihrem imposanten «Lebenswerk trotz allem» dem massenhaften Dritten und Vierten Alter zum Durchbruch verholfen haben. Wir - im Zweiten Alter, in den «besten Jahren», im aktiven Berufsleben Stehende - sind nur noch deren Aufrechterhalter und Mehrerer. Es ist nicht unsere Sache, ihnen zu «raten», wie sie ihre unerwartet gewonnenen Jahre nun zu gestalten hätten. Wenn und wo sie es wünschen, stehen wir ihnen zur Verfügung. Wenn und wo nicht, haben wir uns ihnen nicht aufzudrängen.

Die neue Aufgabe, die sie uns übertragen haben, besteht darin, die vielen, mit grösserer Wahrscheinlichkeit denn je vor uns liegenden Jahre von Anfang an so zu gestalten, dass wir des Privilegs dieser bislang einmaligen Situation auch wert sind. Eine Möglichkeit, diese Aufgabe zu lösen - und sicher nicht die schlechteste - gründet auf der Devise «Erfüllt leben - in Gelassenheit sterben».
 
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