Frauen - willige Opfer der Medizin?
Früherkennung, Hormone, Geburtsmedizin auf dem Prüfstand kritischer Wissenschaft
- Wege zu einer zeitgemässen Praxis


Autor: Jane Hall
Keywords: Frauenheilkunde, evidence based medizine, klinische Forschung, Medizinkritik, Patienteninformation, Evaluation, Brustkrebs
Abstract:
Copyright: Texte: Stiftung PARACELSUS HEUTE
HTML-Gestaltung:  Bernhard Harrer Wissenstransfer

Autoren
Begrüßungen
Die alternde Frau
Die schwarze Madonna/Theater
Die schwangere Frau
Die krebsgefährdete Frau

Prof. James McCormick,
Der regelmässige Gebärmutterhals-Abstrich - Soll man darauf verzichten?
Dr. Richard E. Steele,
Der "Konsensus"-Opportunismus in Politik und Wissenschaft von Brustkrebs-Früherkennungsprogrammen
Dr. Jane Hall,
Versteckte Kosten und vergessene Lebensqualität bei Frauen mit Brustkrebs
Dr. Johannes G. Schmidt,
Krankheitsanfälligkeit und Brustkrebs - Harmlosigkeit der Krebszelle und Merkmale einer mangelnden Selbstheilung
Prof. Alastair J. Cunningham,
Krebspatienten - Ganze Menschen und nicht nur Körper mit Krebszellen
Dr. Bob Flaws,
Die Entwicklung von Brustkrebs in der traditionellen chinesischen Medizin - Lässt sich diese Krankheit vorbeugen?
Moderne Medizin

Versteckte Kosten und vergessene Lebensqualität bei Frauen mit Brustkrebs

Versteckte Kosten und vergessene Lebensqualität bei Frauen mit Brustkrebs
(Original-Titel des englischen Vortrags: Invisible costs, uncounted gains - Women and breast cancer)

Dr. Jane Hall
Centre for Health Economics Research and Evaluation, University of Sydney/Australia

Ich möchte über einen Aspekt sprechen, der im Zusammenhang mit Brustkrebs und Früherkennung oft nicht mitberücksichtigt wird, nämlich die versteckten und vergessenen Kosten. Die nicht miteingerechneten Kosten und der sehr zweifelhafte Gewinn, der daraus gezogen wird.
 

Brustkrebs betrifft viele Frauen

Brustkrebs ist eine spezifische Frauenkrankheit. Nicht nur, weil sie fast ausschliesslich Frauen betrifft, sondern auch, weil diese Krankheit und ihre Behandlung die Selbstachtung der Frau, ihr Selbstvertrauen als Geschlechtsperson und ihre Identität beeinträchtigt.

Vor 15 bis 20 Jahren war es für Frauen, die gewisse Symptome aufwiesen - zumindest in Australien - üblich, sich einer chirurgischen Behandlung, einer Mastektomie zu unterziehen. Vor diesem Eingriff hatten sie aber weder eine genaue Diagnose noch wussten sie, wie diese Operation ausgehen würde. Ob sie beim Aufwachen eine Brust weniger haben würden oder die Diagnose Brustkrebs.

Als ich damals, als junge Forschungsassistentin, angefangen habe, mich mit Brustkrebs und Lebensqualität zu befassen, sagte ein Chirurge: «Die Lebensqualität ist keine Frage bei der Behandlung von Brustkrebs. Man entfernt die Brust, und damit hat es sich.» Zum Glück hat die Behandlung von Brustkrebs seither viele Veränderungen erfahren, und man hat auch bessere konservative chirurgische Techniken und sekundäre Therapiemethoden entwickelt.

Zur Behandlung: Es gibt zwar wenige Möglichkeiten, Brustkrebs vorzubeugen. Vorsorge-Untersuchungen werden aber trotzdem gefördert, um möglichst früh Hinweise zu erhalten. Die Einstellung zu Brustkrebs hat sich also ziemlich radikal geändert von einer Haltung, wo man abwartete, bis Frauen krank wurden und sich dann behandeln liessen, hin zur Früherkennung, um mehr Frauen rechtzeitig zu erfassen. Die Frauen werden dann oft als «Patientinnen» bezeichnet.

In vielen Ländern scheint Brustkrebs die Krankheit zu sein, vor der sich Frauen am meisten fürchten. In einer kürzlich veröffentlichten Studie in Wales sagten 31% der untersuchten Frauen aus, dass Brustkrebs ihnen Sorgen bereite. Über Herzkrankheiten, wo die Wahrscheinlichkeit einer Erkrankung grösser ist, machten sich aber nur 22% der Frauen Sorgen.

In Australien hat man sich auch auf politischer Ebene viele Gedanken um Brustkrebs gemacht. Brustkrebs scheint ein Symbol für ein Frauenanliegen geworden zu sein. Ein Anliegen in Bezug auf ihre Gesundheit, ihre besondere Kondition als Frau und ihre Probleme mit dem medizinischen Versorgungssystem und der medizinischen Forschung. Brustkrebs fand plötzlich eine
besondere Beachtung. Einmal in Form eines umfassenden Früherkennungsprogramms, was soziologisch betrachtet sicher sehr interessant wäre, weil es auf zwei kombinierte Interessengruppen zurückging, die Radiologen und die Frauenrechtlerinnen. Neben der Früherkennung gibt es in unserem Land jetzt ein Brustkrebs-Zentrum mit der Aufgabe, die Frauen und ihre behandelnden Ärzte zu informieren. Die ersten klinischen Richtlinien zur Behandlung von Brustkrebs werden demnächst veröffentlicht. Wir haben auch einen besonderen Fonds für Brustkrebsforschung eingerichtet, getrennt von den allgemein zur Verfügung stehenden medizinischen Forschungsgeldern. Brustkrebs ist also ein wirklich besonderer Fall geworden, ein besonderes Anliegen auch der Frauenbewegung und Gegenstand von intensivem politischem Lobbying. Nicht nur als Errungenschaft von politischen Prozessen, sondern natürlich auch im Interesse der Gesundheit der Frauen.

Bei Brustkrebs und Brustkrebsfrüherkennung verbinden sich verschiedene Aspekte und besondere Merkmale in Bezug auf die Gesundheit der Frauen und das bestehende Gesundheitssystem. Es ist eine gefährliche Krankheit, die fast nur Frauen betrifft, sie ist lebensbedrohend und eine relativ häufige Krankheit in Australien. Eine von 25 Frauen stirbt an Brustkrebs. Es ist eine Krankheit, die die Gesundheit und Lebensqualität beeinträchtigt und die Identität und das Selbstvertrauen der Frau gefährdet. Und man hat Angst davor. Die Kontrolle und der Umgang mit dieser Krankheit haben sich aber völlig geändert. Man wartet nicht mehr, bis man erkrankt ist, sondern man lässt sich schon sehr früh in ein Früherkennungsprogramm hineinziehen.

In meinen heutigen Ausführungen möchte ich aber nicht so sehr auf den Zusammenhang Frau und medizinisches Gesundheitssystem und Gesundheitsvorsorge eingehen, da ich mich mit Datenauswertung befasse und nicht Klinikerin bin. Die Evaluation der Früherkennung von Brustkrebs ist als Fallstudie sehr interessant. Es ist eine Studie, mit der ich mich seit mehreren Jahren beschäftige. Ich glaube, dass ich daher aus einiger Erfahrung sprechen kann. Die engstirnige Sicht der Ökonomen, Epidemiologen oder Forscher bei den Auswertungen dieser Studien ist aber enttäuschend und nicht zufriedenstellend. Wenn wir zu engstirnig blicken, geht die Antwort an uns vorbei.
 

Grenzen und Einseitigkeit vorliegender Evidenz

Als Ökonomin kann ich sagen, dass eine Auswertung auch verschiedene Alternativen und eine Kosten-Nutzen-Analyse miteinbeziehen muss. Die Bewertung einer Technologie muss mit der Wirksamkeit dieser Technologie verglichen, und es müssen randomisierte Kontrollgruppen gebildet werden. Ich möchte klarstellen, dass ich nicht die Notwendigkeit dieser Auswertungen in Frage stelle und auch nicht unzufrieden bin mit dem Rahmen, der die Alternativen zulässt oder behandelt und die entstehenden Kosten identifiziert. Was ich in Frage stellen möchte, ist das Fehlen von randomisierten Kontrollgruppen und die Art der Definition von Kosten und Nutzen. Und schliesslich möchte ich die Frage des Nutzens noch etwas weiter ausführen und darüber sprechen, welches wirklich die Vorteile für das menschliche Wohlergehen sind.

Es besteht offenbar auch hier, ebenso wie in meinem Land, eine enorme Begeisterung in Bezug auf Evidence Based Medicine: Medizinische Entscheidungen sollten also ausgehen von der besten Synthese der vorhandenen Forschungsergebnisse. In diesem speziellen Fall sind die besten Forschungsergebnisse diejenigen, die aus randomisierten Studien oder RCTs, wie ich sie in der Folge nennen werde, gewonnen werden. RCTs sollen also das beste Mittel zum Nachweis einer Wirkung sein, wenn eine Wirkung vorhanden ist. Sie können also Ergebnisse über die theoretisch mögliche «Wirksamkeit» (efficacy) und nicht unbedingt über den «Nutzen unter Praxisbedingungen» (effectiveness) aufzeigen. Ich hoffe, dass diese Unterscheidung klar ist.

Die Probleme sind die folgenden:
(1) Die RCTs werden normalerweise in grossen Behandlungszentren durchgeführt. Weder die Patienten noch die beteiligten Ärzte sind also in irgend einer Weise repräsentativ oder typisch.
(2) Die Patienten werden oft aufgrund von Alter, Geschlecht, Ausschluss von Ko-Morbidität ausgesucht. Insbesondere in Australien, wo wir eine sehr multikulturelle Gesellschaft und viele verschiedene Sprachgruppen haben, werden sie auch ausgewählt aufgrund ihrer Fähigkeit, Englisch zu verstehen und zu sprechen, damit sie auf Fragen antworten können.
(3) Welche Behandlung angeboten wird und wem sie angeboten wird, ist starr vorgeschrieben.
Es ist also sehr zweifelhaft, wenn man dann von diesen RCT-Ergebnissen verallgemeinern will. Bei Untersuchungen vieler anderer Krankheiten, wie z.B. Herzkrankheiten, werden Frauen überhaupt nicht berücksichtigt. Die Ergebnisse dieser Studien werden aber trotzdem generell auch auf die Frauen angewandt. Ausschluss aufgrund des Geschlechts ist im Zusammenhang mit Brustkrebs nicht besonders schwerwiegend. Andere Ausschlussgründe sind aber bedenklich. Eine kürzlich veröffentlichte, sich über eine Zeitperiode von 20 Jahren erstreckende Studie über die Auswahlkriterien in RCTs hat gezeigt, dass sie immer selektiver wurden. Das sind natürlich Einschränkungen, die die Relevanz der Ergebnisse für die klinische Praxis sehr stark begrenzen.

Es ist also eine Frage der internen Gültigkeit (interne Validität), im Gegensatz zur Generalisierung (externe Validität). Als Wirtschaftswissenschaftler haben wir doch oft mehr mit der Generalisierung von Aussagen zu tun als mit der internen Validität. Wir nehmen die Untersuchungsergebnisse, versuchen sie dann hochzurechnen und über die Grenzen des Versuches hinaus zu extrapolieren auf die Situation in der Welt (ganz allgemein). Und das wird nicht 'mal als unwissenschaftlich angesehen. Das New England Journal of Medicine hat vor kurzem eine Unterscheidung vorgenommen zwischen «wirklichen» wissenschaftlichen Untersuchungen und Kosten-Wirkungs-Analysen. Es versteht sich als ein Medium, dass zwar frühere Untersuchungen publiziert, nicht aber jüngere Studien.

Zwei weitere Aspekte limitieren die Aussage von RCTs. Die Frage nämlich, was untersucht wird und wer die Forschungsagenda festlegt. Ein grosser Teil der finanziellen Unterstützung für die Untersuchungen kommt von der Pharmaindustrie. Das überrascht nicht weiter, da die Industrie natürlich daran interessiert ist, ihre Medikamente abzusetzen und zu vermarkten. Und zwar möglichst viele, möglichst billig hergestellte Medikamente an möglichst viele Menschen zu verkaufen. Ein grosser Teil der Resultate, welche dann die Grundlage für die Medizin sein werden, sind Nachweise und Ergebnisse, die die Pharamaindustrie betreffen. Natürlich nicht alle. Unter diesen Voraussetzungen muss man also sagen, was in diese Studien eingeht, wird durch die Interessen der Forscher bzw. Geldgeber bestimmt.

Wenn Sie sich durch Evidence Based Medicine behandeln lassen wollen, ist es am besten, wenn Sie entweder eine sehr gewöhnliche Krankheit haben oder eine besonders interessante Krankheit. Was bedeutet dies im Falle von Frauen, die Brustkrebs haben? Die Behandlungsrichtlinien werden sich auf die Frühstadien der Krankheit konzentrieren. Die zahlreichen Begegnungen mit Ärzten, die die Frauen im Verlaufe der Krankheit haben, sind nicht sehr eingehend und auch nicht in derselben Weise untersucht worden. Es wurden Behandlungsarten untersucht, die die Neugier der Untersuchenden kitzeln, meistens etwas Neues und etwas, was Technologie verlangt. In meinen Kreisen spricht man oft von den Spielsachen der medizinischen Praxis. Die Verzögerung zwischen der Akzeptanz einer gewissen Beweisserie und der allgemeinen Anwendung in der Praxis ist sehr gut dokumentiert. Und darauf greifen klinische Forscher auch zurück. Ein grosser Teil der Forschung wird heute aber initiiert durch eine gewisse Neugier, mit neuen Technologien umgehen zu wollen oder der kommerziellen Aussicht, dann möglichst viele Benutzer zu haben.

Die Brustkrebsfrüherkennung entspricht diesen beiden Kriterien in idealer Weise. Es wird Technologie verwendet, und es ist ein sehr grosser, noch nicht ausgeschöpfter Markt an Patientinnen vorhanden. Es werden also Untersuchungen durchgeführt, die beweisen sollen, dass die Mammographie nützlich ist. Aber es gibt keine Untersuchungen z.B. für alternative Behandlungen von Brustkrebs, etwa in multidisziplinären Zentren. Im Vereinigten Königreich, wo es auch ein Früherkennungsprogramm gibt, ist die Mortalitätsrate bei Brustkrebs im Begriff, zurückzugehen. Dies scheint aber alle Altersgruppen zu betreffen und zeigt sich ganz deutlich, bevor eine Auswirkung der Früherkennungsprogramme erwartet werden kann. Der Kommentar war, dass dies vielleicht überhaupt nichts mit der Früherkennung zu tun habe, sondern einfach mit der Tatsache zusammenhänge, dass den Frauen ein besseres und organisierteres Behandlungssystem zur Verfügung stehe. Wir haben uns bei diesen RCT-Ergebnissen gefragt, ob uns die RCT-Tests vielleicht in eine falsche Richtung geführt haben, indem wir ein Früherkennungsprogramm entwickelt haben, bevor wir genug über die Behandlung wussten und andere Aspekte eventuell vernachlässigt haben.

Es gibt bei dieser Untersuchungsmethodologie auch Probleme hinsichtlich der Auswahl und Wirtschaftlichkeit. In Australien und im Vereinigten Königreich und auch andernorts macht man sich jetzt Sorgen über das Recht des einzelnen, mitentscheiden und damit gegen den allgemeinen Rat der Medizin entscheiden zu dürfen. Aber es gibt auch Hinweise darauf, dass eine eigene Wahl oder Entscheidung vielleicht zu besseren gesundheitlichen Ergebnissen führt. Die Zustimmung, an einer Untersuchung teilzunehmen bedeutet aber, die eigene Entscheidungsfreiheit aufzugeben. Mir scheint daher, dass hier etwas wichtiges, nämlich die Unterscheidung zwischen konservativen und radikalen chirurgischen Methoden verlorengeht. Hier wurden die falschen Dinge miteinander verglichen. Vielleicht ist es nicht die Art der Chirurgie, die den Ausschlag gibt, sondern das, was die Frauen selbst wählen würden und ob sie überhaupt vor eine Wahlmöglichkeit gestellt werden.
 

(Vergessene) Kosten

Was kostet das alles? Der theoretische und konzeptuelle Rahmen besagt, dass alle anfallenden Kosten berücksichtigt werden müssen. D.h. also alle Ressourcen, die ansonsten anders eingesetzt werden könnten, unabhängig davon, wer sie zur Verfügung stellt. Bei den Behandlungskosten muss man folglich zwei Aspekte, die meist vergessen werden, miteinbeziehen. Einmal die Kosten in Form von Zeit und zum andern die Kosten, die die informelle oder unbezahlte Betreuung miteinschliessen. Zeitkosten sind die Zeit, die durch Krankheit oder Behandlungszeit verlorengeht, beispielsweise Arbeitszeit. Die Zeit am Arbeitsplatz wird oft auf der Basis von einem Stundenlohn ausgerechnet. Die Zeit bzw. das Geld, das verlorengeht, wenn ein Arbeitnehmer ausscheidet. Es gibt darüber sehr viele Kontroversen und ob diese Kosten in der Auswertung von Gesundheitsprogrammen miteinbezogen werden sollen und wenn ja, wie hoch sie veranschlagt werden sollen. Das ist eine sehr interessante Debatte, aber die würde hier viel zu weit führen. Ich möchte jedoch darauf hinweisen, dass sich die Diskussion auf bezahlte Arbeit, auf Lohnarbeit konzentriert hat.

Aber wie steht es mit der unbezahlten Arbeit? Auch das ist eine signifikante Komponente wirtschaftlicher Tätigkeit. Diese Kosten wurden jedoch bis vor kurzem in den offiziellen Statistiken immer ignoriert. Es gibt jedoch jüngere Daten aus mehreren Ländern, die darauf hindeuten, dass das Ausmass der unbezahlten Arbeit, z.B. im Haushalt oder in nicht marktwirtschaftlichen Bereichen, wesentlich höher ist, als die Kosten der formellen Marktwirtschaft. In Australien zum Beispiel ist der Wert der Nicht-Marktwirtschaft auf 140% der marktwirtschaftlichen Kosten geschätzt worden. Und diese Proportion hängt vom Geschlecht ab. 65% der informellen Arbeit wird nämlich von den Frauen geleistet.

Was nun in Bezug auf die Behandlungskosten wichtig sein kann, ist nicht so sehr die verlorengegangene Arbeitszeit der bezahlten Arbeit, sondern die Art der Arbeit. Ob sie zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt werden kann, ob andere auf die Arbeit einer Person, die abwesend ist, angewiesen sind oder ob sie diese Absenz kompensieren können. Und natürlich auch die Bezahlung, d.h. ob der Arbeitnehmer Lohn verliert. Mit diesen Kriterien gibt es in Bezug auf die Haushaltproduktion viel weniger Flexibilität als im formellen Markt. Und deshalb wiegt die Zeit wesentlich schwerer für diejenigen, die nicht in der Marktwirtschaft tätig sind. Frauen, die eine bezahlte Arbeit haben, nehmen bedeutend häufiger und zahlreicher an diesen Früherkennungsprogrammen teil als Frauen, die einer unbezahlten Arbeit nachgehen.

Welche Behandlungsmethode gewählt wird, läuft z.B. in Australien nach einem ganz bestimmten Schema ab. Australien ist ein sehr weites Land, anders als die Schweiz, aber mit einer dünnen Besiedlungsdichte und geringer Bevölkerung. Die Bevölkerung konzentriert sich ausserdem auf die Grossstädte des südlichen
Ostens. Frauen mit Brustkrebs, die in ländlichen und entfernt gelegenen Teilen des Landes leben, werden sicherlich weniger oft konservative Behandlung haben oder an Früherkennungsprogrammen teilnehmen, als ihre Schwestern und Kolleginnen in den Städten. Und dies scheint darauf zurückzuführen zu sein, dass für diese Frauen Kosten entstehen. Frauen auf dem Lande spielen eine grosse und sehr wichtige Rolle in der Kindererziehung und auch als unbezahlte landwirtschaftliche Arbeiterinnen. Und das ist ein entscheidender Grund, der sie davon abhält, sich frühuntersuchen zu lassen.

Der zweite Aspekt der Kosten, der oft auch übersehen wird, ist die Versorgung. Die informelle Versorgung zu Hause wird oft von Familienmitgliedern oder Freunden übernommen. Eine wirtschaftliche Analyse und Bewertung dieser Arbeit ist oft oder meistens vernachlässigt oder überhaupt nicht berücksichtigt worden bei der Berechnung der Kosten. Dieser Faktor wurde sozusagen als Randerscheinung, als nicht relevant ignoriert. Für Australien macht er jedoch gemäss unserer Schätzungen 15 bis 30% dieser unbezahlten Betreuung aus. Es ist also nicht eine Randerscheinung. Die informelle Versorgung wird auch hier meistens von Frauen geleistet. In Australien üben doppelt so viele Frauen wie Männer eine betreuerische Tätigkeit aus. Wenn wir also diese informelle Versorgung nicht miteinbeziehen, dann ignorieren wir ein sehr wichtiges Element des Aufwandes, die von Frauen geleistet wird.

Was bedeutet dies nun alles in Bezug auf die Behandlungskosten von Brustkrebs und Früherkennung? Konventionelle Ansatzpunkte haben diese Kosten entweder übersehen oder unterschätzt, insbesondere die Kosten, die von den Frauen selbst getragen werden.
 

(Vergessene) Lebensqualität

Brustkrebs ist die Krebskrankheit, die in Australien die meisten Todesfälle unter Frauen verursacht. Die Senkung der Mortalitätsrate und die Erhöhung der Überlebenszeit ist also wichtig. Es geht aber nicht nur um die Länge des Lebens. Die Debatte über Euthanasie (vgl. Northern Territory) geht auf die Sorge zurück, dass Menschen so lange wie möglich am Leben erhalten werden in einem Zustand von Unbehagen, Schmerzen, Angst und ohne Würde. Lebensqualität ist also ein wichtiges gesundheitliches Ergebnis. Vieles in der Auswertung meiner Arbeit über Brustkrebsfrüherkennung hat sich auf diesen Aspekt, die Lebensqualität konzentriert.

Wie können wir also den gesundheitlichen Aspekt Lebensqualität in Bezug auf den Nutzen von Früherkennungsprogrammen bewerten? Betrachten wir einmal die verschiedenen Schritte im Verlaufe des Früherkennungsprogramms: Die Tatsache, dass Frauen dafür gewonnen werden müssen, also die Mobilisierung der Frauen, die Untersuchung an sich, die Ergebnisse, ob positiv oder negativ, die nachfolgende Behandlung und die Auswirkungen der Behandlung. Diesem allem geht zunächst 'mal eine Informationskampagne voraus. Um etwas in Bewegung zu setzen, muss vorerst das Bewusstsein geweckt werden. Das bedeutet auch, dass vielleicht Ängste geweckt werden und es sich daher in Bezug auf eine wirkungsvolle medizinische Behandlung vielleicht auch nachteilig auswirken kann. Die Untersuchung selber ist zeitaufwendig und unangenehm. Das Abwarten der Ergebnisse bringt Ängste mit sich. Die meisten Frauen haben ein negatives Ergebnis. Für sie ist
das dann vielleicht ein positiver Effekt und gut für ihre Beruhigung und Selbstsicherheit. Wenn der Test aber positiv ausgeht und die Diagnose von Brustkrebs bestätigt wird, setzt eine Zeit intensiver Behandlung ein, die weiterhin sehr zeitaufwendig ist. Die Frauen, denen man falsch positive Ergebnisse gegeben hat, werden vielleicht wieder beruhigt sein. Vielleicht werden sie aber auch mit einem permanenten Gefühl von Unruhe zurückgelassen und machen sich Gedanken darüber, was man nun eigentlich bei ihnen entdeckt hat. Die Frauen, die früherkannt werden und für die eine Behandlung noch in Frage kommt, werden vielleicht beruhigt und entlastet weggehen, angesichts der Möglichkeit einer Behandlung, die positive Ergebnisse verspricht. Oder sie werden beunruhigt und ängstlich sein, weil sie nicht wissen, was auf sie zukommt und welche Nebenwirkungen die Behandlung haben wird. Aber bei vielen wird es auch zu spät sein.

Ebenso wichtig wie das Ergebnis ist auch die Art des Vorgehens. Der Prozess selber ist also auch wichtig, nicht nur das Ergebnis. Die Frauen wollen würdig behandelt werden, sie wollen in ihrer Entscheidung unterstützt werden, sie wollen Wahlmöglichkeiten haben und vor allem Zeit, um ihre Wahl zu treffen. Es ist interessant zu sehen, dass die Frauen bei der Beschreibung des Behandlungsprozesses oft erwähnen, wie schwierig es für die Ärzte sein muss, einer Patientin eröffnen zu müssen, dass sie Brustkrebs hat.

Die Bedeutung von Information und Autonomie in Bezug auf die Entscheidungsfindung wird unterschiedlich bewertet. Manche Frauen wollen mehr, andere weniger. Die Frauen in unseren Erhebungen haben uns gesagt, dass sich ihre Wahrnehmungen bei der Diagnose Brustkrebs plötzlich verändert haben. Sie dachten anders, hörten anders. Sie vergassen Dinge wieder oder verstanden nicht, was man ihnen sagte. «Man ist wie besessen von dieser Nachricht, alles dreht sich nur noch darum.» Das ist auch anderweitig bestätigt worden. Irgend jemand hat es mal so ausgedrückt: «Die kranke Person ist nicht eine gesunde Person mit einer Krankheit, sondern sie funktioniert emotional und kognitiv anders als eine gesunde Person.»

Wir müssen also akzeptieren, dass das Recht, eine Behandlung zu wählen, auch das Recht miteinschliessen muss, nicht zu wählen, d.h. die Entscheidung einem Arzt oder einer anderen Person zu überlassen. Die Kommunikation zwischen Patientin und Arzt ist für die betroffenen Frauen sehr wichtig, wie sie uns bestätigt haben. Aber auch für die Ärzte selber scheint es wichtig zu sein, was eine onkologische Untersuchung ergeben hat. Häufig treten aber auch seitens der Ärzte Kommunikationsschwierigkeiten auf, verursacht durch deren Stress und aus ihren Gefühlen der Machtlosigkeit heraus, auch weil sie in ihrem Beruf als Arzt an Grenzen stossen.

Dann müssen wir uns natürlich auch Gedanken machen über die Behandlungsergebnisse und die physischen und psychischen Auswirkungen auf die Frauen. Das Ziel der Früherkennung ist ja, Leben zu verlängern und nicht Krankheit zu verlängern. Und die Qualität dieser Jahre ist entscheidend. Bringt eine lebensverlängernde Massnahme, die zwar zu einem kleinen Gewinn an zusätzlichen Lebensjahren, aber zu einem Verlust an Lebensqualität führt, überhaupt den erhofften Gewinn? Was wissen wir überhaupt über den Nutzen der Brustkrebs-Früherkennung? Gewisse Statistiken und Analysen sagen, dass die Überlebensrate 30 bis 50% beträgt, für Frauen im Alter von 50 Jahren und mehr. Es ist aber schwierig, die Auswirkungen der Früherkennung von der Behandlung zu trennen. Möglicherweise werden Frauen, die an randomisierten Kontrollgruppen teilnehmen, eher an spezialisierte Behandlungszentren verwiesen als die meisten anderen Frauen. Eine der Fragen, die sich für uns in Australien bei der Auswertung dieser Früherkennungsprogramme gestellt hat, ist, ob die Frauen, bei denen ein Krebs entdeckt wurde, dann auch angemessen weiterbehandelt werden. Wir haben eigentlich sehr wenige oder keine Daten über bestehende Behandlungsmuster und das weitere Vorgehen. Wir wissen nur, dass ein grosser Teil von brustchirurgischen Eingriffen von Chirurgen ausgeführt werden, die selten, pro Jahr vielleicht 3 bis 4 Brustoperationen durchführen. In Grossbritannien hat man festgestellt, dass die Todesfälle infolge von Brustkrebs rückläufig sind. Dies kann natürlich auch mit der früher einsetzenden und besseren Behandlung der Frauen zusammenhängen und nicht unbedingt nur mit den Früherkennungsprogrammen. Welches sind aber die gesundheitlichen Auswirkungen, die Vor- und Nachteile für Frauen, die keinen Brustkrebs haben? Denn es handelt sich ja da um eine grosse Gruppe von Frauen, die betroffen ist.

Die mir bekannten Untersuchungen in Bezug auf Ängste, die im Zusammenhang mit diesen Früherkennungsprogrammen geweckt werden, besagen, dass die Ängste nicht sehr gross, nicht übertrieben hoch sind. Es ist aber trotzdem wichtig, wohlüberlegt und vorsichtig mit diesen Werbekampagnen umzugehen. In Australien z.B. weisen die Medien von Zeit zu Zeit in spektakulärer Weise auf die Risikofaktoren von Brustkrebs hin. Meistens geht dies auf irgend einen männlichen Arzt zurück. Solche Risikofaktoren sind dann beispielsweise zu spätes Gebären, reduziertes Stillen oder sogar - immer noch! - Kinderlosigkeit. Oder Headlines wie «Der veränderte Lebensstil der Frauen führt zu erhöhter Anfälligkeit für Brustkrebs». Und all dies trotz der Tatsache, dass alle bekannten Risikofaktoren nur 30% der Fälle von Brustkrebs überhaupt erklären können. Und in keinem dieser Zeitungsartikel habe ich eine Erwähnung gefunden, dass z.B. geschiedene Frauen eine viel bessere Überlebenschance nach einer Brustkrebsbehandlung haben, als verheiratete Frauen. Dies scheint also ein klarer Fall dafür zu sein, das Opfer anzuschuldigen. Mir sind zwar keine Studien bekannt, in denen untersucht wurde, ob sich Frauen aufgrund derartiger spektakulärer Medienartikeln irgendwie beeindrucken oder verängstigen lassen. Aber es gibt eine Menge inoffizieller Informationen, die besagen, dass die Schuldgefühle und Ängste der Frauen sehr hoch sind.

Also muss man sich die Frage stellen, wie die Lebensqualität von Frauen nach der Diagnostizierung von Brustkrebs ist. Soll man nach einer Operation von Jahren in guter Gesundheit sprechen oder ist es eine reduzierte Gesundheit, eine verminderte Lebensqualität? Es hat sich erwiesen - und das geht auf Aussagen von betroffenen Frauen zurück -, dass selbst bei erfolgreicher Operation mit guten physischen und psychischen Ergebnissen es doch Jahre einer geringeren Lebensqualität sind, des weniger guten Gesundheitszustandes. Wir schätzen aufgrund der Literatur, dass bis zu 30% der Brustkrebspatientinnen nach der Behandlung ängstlich, niedergeschlagen und lustlos sind. Eine kürzlich veröffentliche Studie hat das wiederum in Frage gestellt. Man hat Frauen, die eine standardisierte psychiatrische Behandlung hinter sich hatten, im Hinblick auf ihren Gemütszustand oder auf depressive Stimmungen untersucht. Diese Studie hat ergeben, dass bei den Überlebenden von Brustkrebs nicht mehr Depressionen auftreten, als im Vergleich mit der gesamten Bevölkerung. Also wieder ein anderslautendes Ergebnis. Wie sollen wir all diese Daten interpretieren? Vielleicht mit Hilfe von anderen Kriterien als psychiatrischen Normen. Die Veränderung, die für Frauen nach einer Behandlung eintritt, ist vielleicht schwer vorauszusagen. Diese Veränderung kann, kulturell oder auch geographisch bedingt, unterschiedlich sein. Als wir mit australischen Frauen über die Auswirkungen nach der Operation sprachen, im speziellen nach Bestrahlungen, haben wir eine Anfälligkeit und Reizbarkeit der Haut, die auf Bestrahlung oder ähnliches reagiert, festgestellt. In einem heissen Klima kann die Tatsache, dass man keine langen Ärmel tragen oder gewisse Spuren der Behandlung bedecken kann, die Lebensqualität beeinflussen und einen grossen psychologischen Belastungsfaktor darstellen. Es ist also sehr schwer festzustellen und schwer greifbar, welches die richtige Betrachtungsweise, die Einflusskriterien sind für diese Frauen, für ihre Lebensqualität und ihr Befinden nach einer Behandlung.

Aber es geschieht noch etwas anderes mit der Lebensqualität. Vielleicht ist die Zeit danach nicht so schlimm, wie man sich das vorgestellt hat. Das scheinen Aussagen zu bestätigen, die ergeben, dass die Frauen für sich persönlich eine höhere Lebensqualität wiederfinden, im Gegensatz zu ihrem Umfeld und ihrer näheren Umgebung. Interessanterweise haben in unseren Untersuchungen Frauen mit Brustkrebs ihren allgemeinen Gesundheitszustand als besser bezeichnet als eine Gruppe von Frauen, die keinen Brustkrebs gehabt hat. In einer Untersuchung, die meine Kollegen bei Frauen mit Brustkrebs durchgeführt haben, hat mehr als die Hälfte der Frauen ihren Gesundheitszustand nach der Behandlung als «so gut wie möglich» bezeichnet. Das könnte ausserordentlich gute Gesundheit in dieser Gruppe zum Ausdruck bringen, aber auch die Tatsache, dass diese Frauen ihre Erwartung an das anpassen, was sie als einen guten Gesundheitszustand erachten. Für die eigene Lebensqualität ist es sicher wichtig, das zu akzeptieren, was nicht verändert werden kann und sich positiv einzustellen. Viele dieser Frauen haben aber sogar über einen persönlichen inneren Reifungsprozess, eine Weiterentwicklung oder eine stärkere Erfüllung berichtet. Sie sagten oft, dass sie sich durch diese Erfahrung weiterentwickelt und einen Blick für das Wesentliche bekommen hätten. Nach dem Sprichwort: Was mich nicht umbringt, macht mich stärker.

Wir sind in unseren Untersuchungen sehr individualistisch vorgegangen. Wir verlassen uns auf den methodologischen Individualismus. (Ich nehme an, Margrit Thatcher würde zustimmen, denn sie sagt, es gibt nicht eine Gesellschaft, es gibt nur Individuen.) Aber das mag sehr weite Auswirkungen haben. Patientinnen sind nicht nur unabhängige, autonome Individuen, sie sind auch Familienmitglieder, sie sind Mitglieder von sozialen Gruppen oder Freundeskreisen. Ihr Wohlergehen und ihr Glück beeinflussen andere. Frauen wissen das. Frauen machen sich über die Auswirkungen der Behandlung speziell in Bezug auf die ihr Nahestehenden Sorgen. Ganz besonders dann, wenn sie selbst einmal jemanden gepflegt haben, der an Krebs litt. Unsere Forschungsergebnisse haben auch gezeigt, dass die Töchter von Frauen mit Brustkrebs besonders anfällig sind. Denn die Mütter stützen sich in diesen Fällen sehr stark auf ihre Töchter ab. Und überdies müssen diese auch mit ihrer eigenen Krebsanfälligkeit und Verwundbarkeit fertig werden. Das sind alles Dinge, die wir sehr oft nicht mit in Betracht ziehen. Jemanden zu betreuen, die Verantwortung für eine kranke Person, ändert auch die Lebensqualität dieser Pflegeperson. Die grosse Belastung und Anspannung kann sich auch im physischen und emotionalen Bereich niederschlagen. Es ist eine Belastung, die sich oft schwächend auf die eigene Gesundheit auswirkt. Natürlich gibt es auch positive Aspekte der Betreuung. Eine stärkere Bindung, ein Gefühl von Intimität, Freude darüber, jemandem helfen zu können und die Befriedigung über die eigene Leistung. Positive Seiten darin zu sehen, ist sehr menschlich, und die persönliche Erfahrung spielt dabei eine grosse Rolle. Und es sicher so, dass unsere (konventinellen wissenschaftlichen) Vorstellungen von gesundheitlichem Ergebnissen, Auswirkungen und Lebensqualität all diese menschlichen Erfahrungen nicht erfassen können.
 

Was die Wissenschaft (heute noch) übersieht

Die gegenwärtigen Forschungsmethoden betreffen nur eine höchst selektiv ausgewählte Gruppe von Menschen, und die Ergebnisse werden gerne verallgemeinert. Was untersucht wird und wie es untersucht wird, zeigt sich dort, wo die Entscheidungen im medizinischen Bereich getroffen werden. Diese Entscheidungen werden stark von kommerziellen oder auch privaten Interessen beeinflusst und auch von der persönlichen Neugier der Forscher. Die konventionelle Definition von Kosten und Nutzen ist sehr eng gefasst, insbesondere in Bezug auf die Kosten. Was wir dabei vergessen ist, dass der grösste Teil dieser Arbeit durch die Frauen erbracht wird. Und ein Aspekt, nämlich menschliche Erfahrung, wird bei diesen Untersuchungen sicherlich nicht berücksichtigt. Um Marilyn French zu zitieren: «Wirtschaftswissenschaft - es ist eine seltsame Wissenschaft, die die Hälfte der Existenz übersieht. Aber vielleicht tun das auch andere Wissenschaften.» Die Medizin tut es sicher!

Ich möchte abschliessen, indem ich diese Idee der gesundheitlichen Auswirkungen und des Gesundheitsnutzens noch einen Schritt weiterbringe und frage: Welches ist der Nutzen einer verbesserten Gesundheitsvorsorge? Ist die bessere Gesundheit ein Ziel an sich oder ist es nur ein Mittel, eine Gelegenheit für etwas anderes? Leben wir, um gesund zu sein oder streben wir nach Gesundheit, um besser leben zu können?

Ich möchte diese Frage beantworten, indem ich Ihnen aus meiner eigenen Erfahrung eine Geschichte erzähle. In Australien ist die Gesundheit der Ureinwohner wirklich sehr, sehr schlecht. So verwundert es nicht, dass diesem Umstand sehr viel Aufmerksamkeit gewidmet wurde und es Thema vieler Untersuchungen war. Auch die WHO interessiert sich dafür, und die Regierung hat ein Gesundheitsprogramm für die Ur-Bevölkerung ausgearbeitet mit dem Ziel, z.B. die Kindersterblichkeit um 20 Prozent zu reduzieren. Aber das bringt uns zur Frage, welches ist der Nutzen einer guten Gesundheit? Was bedeutet Gesundheit in der Kultur der Aboriginees? Ein Sprecher der Aboriginees hat gesagt: «Es gibt in unserer Sprache kein Wort für Gesundheit. Das am meisten verwendete australische Wort für Gesundheit wird übersetzt mit Glück. Und ein gesundes Leben ist ein glückliches Leben. Der Gegensatz zu diesem Glück ist der Tod.» Er sagte aber weiter: «Wenn wir aber, um ein langes Leben oder ein weniger stressendes Leben für die Einheimischen zu erzielen, unsere Kultur oder das, was uns einmalig macht, aufgeben müssten, dann wäre das ein zu hoher Preis für diese Gesundheit.» Er hat also die Ziele in Frage gestellt und sich für Strategien ausgesprochen, die eher die einheimische Kultur schützen und weitertragen würden. Das ist ein sehr dramatisches Beispiel, und vielleicht scheint es auch ein bisschen weit entfernt zu liegen von Einsiedeln. Aber die Frage beschränkt sich durchaus nicht nur auf Australiens Ureinwohner.

Ein weiteres Beispiel ist die Behandlung von Taubheit. Das bionische Ohr ist eine neue Möglichkeit, Taubheit zu heilen oder jene hören zu lassen, die taub geboren wurden. Erfolgreiche Operationen, insbesondere bei Kindern, werden in den Medien oft sehr breitgetreten. Die Tauben selber aber sind gegen diese Operation, das Implantat des bionischen Ohres. Sie glauben nämlich, dass sie etwas Wertvolles verlieren, wenn sie sozusagen geheilt werden und hören können.

Welche Bedeutung hat das nun im Zusammenhang mit Brustkrebs? Es ist z.B. im Hinblick auf die Entdeckung des Brustkrebs-Gens wichtig. Die Genforschung hat die Untersuchung defekter Gene wahrscheinlich und genetische Manipulationen möglich gemacht. Früherkennung durch Genuntersuchung und Genmanipulation sind also in den Bereich des möglichen gerückt. Bilaterale Mastektomie wurde z.B. als prophylaktische Behandlung vorgeschlagen bei Frauen, die dieses Gen aufweisen, und dies, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Selektive Abtreibung und genetische Manipulationen und Techniken sind die Antwort auf die Identifizierung von genetischen Materialien. Diese Interventionen werden unser gesamtes genetisches Bild verändern. Was für eine Art Menschen werden wir sein, wenn wir uns Genmanipulationen aussetzen?

Ich habe hier versucht aufzuzeigen, dass die gängige wissenschaftliche Bewertung der Mammographie nicht wirklich nützlich ist, weil sie zu eingeschränkt ist. Zu viele Dinge werden nicht berücksichtigt. Die effektiven, versteckten Kosten und Verdienste werden dabei übersehen. Die Evaluierung von genetischen Untersuchungen bei Brustkrebs wird aber eine noch viel grössere Herausforderung darstellen. Die zusätzlichen Fragen, die wir uns stellen müssen, sind: Was bedeutet Gesundheit? Für welchen Zweck wollen wir bessere Gesundheit? Was ist die Bedeutung des Lebens? Und hier sollte ich meinen Abschied nehmen und dem Philosophen und Theologen zur Beantwortung dieser Frage die Bühne überlassen.
 
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