Frauen - willige Opfer der Medizin?
Früherkennung, Hormone, Geburtsmedizin auf dem Prüfstand kritischer Wissenschaft
- Wege zu einer zeitgemässen Praxis


Autor: Dr. Johannes G. Schmidt
Keywords: Frauenheilkunde, evidence based medizine, klinische Forschung, Medizinkritik, Patienteninformation, Evaluation
Abstract:
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Autoren
Begrüßungen
Die alternde Frau
Die schwarze Madonna/Theater
Die schwangere Frau
Die krebsgefährdete Frau

Prof. James McCormick,
Der regelmässige Gebärmutterhals-Abstrich - Soll man darauf verzichten?
Dr. Richard E. Steele,
Der "Konsensus"-Opportunismus in Politik und Wissenschaft von Brustkrebs-Früherkennungsprogrammen
Dr. Jane Hall,
Versteckte Kosten und vergessene Lebensqualität bei Frauen mit Brustkrebs
Dr. Johannes G. Schmidt,
Krankheitsanfälligkeit und Brustkrebs - Harmlosigkeit der Krebszelle und Merkmale einer mangelnden Selbstheilung
Prof. Alastair J. Cunningham,
Krebspatienten - Ganze Menschen und nicht nur Körper mit Krebszellen
Dr. Bob Flaws,
Die Entwicklung von Brustkrebs in der traditionellen chinesischen Medizin - Lässt sich diese Krankheit vorbeugen?
Moderne Medizin

Krankheitsanfälligkeit und Brustkrebs - Harmlosigkeit der Krebszelle und Merkmale einer mangelnden Selbstheilung

Johannes G. Schmidt
Allgemeinpraxis und Institut für Klinische Epidemiologie, Einsiedeln/Schweiz

Brustkrebs ist eine emotional als "bösartig" bezeichnete Erkrankung, sodass die Frage nach der (relativen) Harmlosigkeit der Krebszelle vielleicht erstaunt oder gar als ketzerisch erscheinen mag.

Wie maligne ist Brustkrebs?

Doch wie maligne ist Brustkrebs etwa im Vergleich zur Koronaren Herzkrankheit?

Tabelle 1 zeigt, dass das Lebensrisiko einer 50-jährigen Frau, einen Herzinfarkt zu erleiden und an der Koronaren Herzkrankheit zu versterben, mehrfach grösser ist als das gefürchtete Risiko, an einem Brustkrebs zu erkranken und daran zu sterben. Überraschend ist aber vielleicht, dass die Koronare Herzkrankheit in gut zwei Dritteln der Fälle zum Tode führt und sich somit klinisch relativ bösartig verhält, während der Brustkrebs nur in knapp einem Drittel einen tödlichen Verlauf nimmt. Wenn also der Brustkrebs in unserem Alltagsdenken als bedrohlich erlebt wird, so kann man immerhin feststellen, dass eine Patientin mit Brustkrebs eine deutlich gutartigere Krankheit hat als eine Patientin mit einer Koronaren Herzkrankheit.
 
 

Tabelle 1
Wie "maligne" ist Brustkrebs im Vergleich?
How "malign" is breast cancer in comparison?
Erkrankungsrisiko* 
risk of desease*
Sterberisiko* 
risk of dying from disease*
Letalität 
Case-fatality
Brustkrebs 
breast cancer
10%
3%
30%
Herzinfarkt 
Coronary heart 
disease
46%
31%
67%
*Lebenszeit-Wahrscheinlichkeit einer 50-jährigen Frau
*Lifetime-probability of a 50-year-old woman
[Grady D et al. Ann int Med 1992;117:1016-1037]

Noch einmal: Wie maligne ist Brustkrebs wirklich?
In Tabelle 2 sehen Sie anhand einer Autopsie-Studie bei einer unselektionierten Gruppe von Frauen, dass 25% aller Frauen krebsartige Veränderungen in ihrer Brust aufwiesen. Nur bei 7% insgesamt - also bei 29% von diesen - hat sich diese Krankheit überhaupt zu Lebzeiten manifestiert und 4% sind an der Krankheit auch gestorben.
 
 

Tabelle 2
Wie "maligne" ist Brustkrebs?
How "malign" is breast cancer ?
maligne Zellen in der Autopsie* 
post mortem prevalence of malign cells*
manifeste Krankheit während Lebenszeit 
clinically manifest during lifetime
Todesursache Brustkrebs 
breast cancer as cause of death
21 6 3
25% 7% 
29%
4%      aller Frauen 
14%    aller Mammakarzinome
bei 83 unselektionierten Frauen - in 83 consecutive female autopsy cases
*in situ und invasive
[Nielsen N. et al Cancer 1964;54:6126-615]

Das zeigt noch einmal, dass Brustkrebs in vielen Fällen eines sehr gutartige Erkrankung ist und noch lange nicht zum Tode führen muss (in über 80%). Brustkrebs ist sogar eine so gutartige Erkrankung, die sich in vielen Fällen (in 70%) nicht einmal als Erkrankung zeigt.
 

Wirkung der chirurgischen Brustentfernung

Nun möchte ich die Frage stellen, was die lokale Therapie, die Chirurgie, am Verlauf von Brustkrebs ändert.

Sie sehen in Tabelle 3 die Operationsradikalität in Bezug auf den Verlauf. Es sind sind alles Studien, die eine klassische Brustamputation mit einer brusterhaltenden Operation verglichen haben. Sie sehen, dass die Überlebensrate identisch ist. Ob Sie also radikal oder nicht radikal operieren, übt auf den Verlauf der Krankheit und auf die Sterberate kaum einen Einfluss aus. Einzelne dieser Studien enthalten Tumore bis zu 5cm Durchmesser. Bei grösseren Tumoren hat man bisher nicht gewagt, diese Frage zu stellen und das zu untersuchen.
 
 

Tabelle 3
Operations-Radikalität und Verlauf
Radical mastectomy versus breast conservation
Follow-up 
(Jahre/years)
Brustamputation 
Mastectomy
Brusterhaltung* 
Breast conservation*
NSABP 8 71% 71%
Gustave- Roussy 10 80% 79%
Milano 13 69% 71%
Danish Group 6 82% 79%
NCI 10 75% 77%
*plus Bestrahlung - plus radiotherapie
[Jacobson JA et al N Engl J Med 1995;332:907-911]

Sie sehen schliesslich (Tabelle 4), dass sogar Studien gemacht worden sind, in welchen chirurgische Eingriffe gegenüber einer rein medikamentösen Behandlung mit Tamoxifen verglichen worden sind. Sie können auch hier - bei älteren Frauen - sehen, dass das Resultat, ob man nun operiert oder gar nicht operiert, am Schluss ungefähr identisch ist. Diese Studie wurde natürlich hart kritisiert in den Korrespondenzspalten des Lancet. Aber wenn man diese Kritik anschaut, ist sie kaum gültig.
 
 

Tabelle 4
Chirurgie versus Tamoxifen
Surgery versus Tamoxifen
bei Frauen> 70 Jahre
women> 70 Jahre
  Follow-up 
(Jahre/years)
Lokalrezidiv 
Local relapse
Überlebensrate 
Survival
    Chirurgie 
Surgery          Tamoxifen
Chirurgie 
Surgery          Tamoxifen
St George's 
Hospital
3 38%                25% 81%                78%
[Gezet JG et al. Lancet1988;i:679-681]

Es gibt von Henderson und Canellos diese bekannte Kurve (Abbildung 1), die einen historischen Vergleich darstellt - Mastektomie gegen Nichtbehandlung von Brustkrebs, und zwar hatten sie damals die Serie, die Halsted vorgestellt hat, verglichen mit einer Patientengruppe aus dem Middlesex Hospital in England. Sie sehen, dass der Verlauf ungefähr gleich aussieht. Man muss darauf hinweisen, dass dies keine richtig kontrolliert, also randomisiert kontrollierte Studie gewesen ist, sondern ein historischer Vergleich, der also einfach die Grössenordnung des Verlaufs zeigen kann. Und wir können feststellen, das ist auch das, was Henderson und Canellos selbst festhalten, dass kein merklich unterschiedlicher Verlauf in diesen beiden Gruppen festzustellen ist.
 

Trotzdem ist die Chirurgie eingeführt worden. Sie hat sich durchgesetzt, und man hat eigentlich erst in letzter Zeit angefangen, wie das auch vorher bereits dargestellt worden ist, minimalere Chirurgie zu vergleichen mit der klassischen Amputation und hat eben da auch festgestellt, dass man keine Änderungen auf den Verlauf feststellen konnte.

Wirkung der lokalen Bestrahlung

Wie sieht es denn mit der adjuvanten Bestrahlung aus, also der zweiten Art der Lokaltherapie?

Sie sehen hier wieder eine Reihe von Studien, die durchgeführt worden sind (Tabelle 5): Eine frühere Studie hat eine Erhöhung der Mortalität durch die Bestrahlung gezeigt. Das war eine frühere Zeit, als die Strahlendosen noch viel höher waren, d.h. die Bestrahlung hat mehr Brustkrebstodesfälle erzeugt als verhindert. Es gibt aber auch einzelne Studien, die eine etwas geringere Mortalität unter der Bestrahlung zeigen. Wenn eine Metaanalyse gemacht wird, wo alle Studien zusammengefasst werden, sehen Sie auch hier wieder, dass die Gesamtmortalität mit Bestrahlung, im Vergleich zu ohne Bestrahlung, ungefähr gleich aussieht.
 
 
Tabelle 5
Mastektomie plus Bestrahlung versus Mastektomie allein
Mastektomy plus radiotherapy versus mastektomy alone
Follow-up 
(Jahre/years)
Brustamputation 
Mastektomy
plus Bestrahlung 
plus radiotherapy
Manchester* 34 43% höhere Mortalität durch Bestrahlung 
NSABP* 5 kein Unterschied - identical
CRC* 10 kein Unterschied - identical
Oslo* 10 kein Unterschied - identical
Stockholm* 13,5 kein Unterschied - identical
Denmark prämen.* 5 14% geringere Mortalität unter Bestrahlung
Denmark postmen.* 5 kein Unterschied - identical
Meta-Analyse** 16'000                                       652                                                                   675 
Patientenjahre                        Gesamtmortalität                                           all-cause-mortality
*[Sacks NPM. Baum M. Lancet 1993;342:1402-1408]
[Cuzick J et al J Clin Onkol 1994;12:447-453]

Hier sehen wir brusterhaltende Operation plus Bestrahlung versus brusterhaltende Operation ohne Bestrahlung (Tabelle 6).

Sie sehen hier etwas ganz  Interessantes. Sie sehen, wenn wir das Lokalrezidiv, d.h. das erneute Auftreten von einem fassbaren Brustkrebstumor in der Brust, die behandelt worden ist, anschauen, sehen wir eine deutliche Verringerung dieses Lokalrezidivs. D.h. mit der Bestrahlung können wir wenigstens das erzielen, dass Krebs an der gleichen Stelle sich viel weniger wieder zeigt. Wenn wir aber wieder die Überlebensrate anschauen, kommt es aufs Gleiche heraus. D.h. wir behandeln eigentlich nur eine lokale Erscheinung und nicht die Krankheit selbst.

Man kann das so formulieren: Die Wirkung der Bestrahlung kann als Scheinerfolg gewertet werden, denn sie verändert nur die lokale Krankheitsäusserung, ohne den Krankheits-Verlauf bremsen zu können. Man kann es vielleicht etwas jargonhaft so sagen: Mit der Bestrahlung lässt sich nur ein "Epiphenomen", nicht aber die Krankheit behandeln. (Wir behandeln in der Medizin sehr viel die Epiphänomene anstatt die Krankheit).

Die Früherkennung

Wenn wir die schwedischen Studien anschauen, können wir folgende Resultate uns vergewärtigen (Tabelle 7): Wenn wir die Altersgruppe 40-74 anschauen, sehen wir eine Reduktion der Brustkrebssterblichkeit von 25%. Wenn wir uns auf diese Gruppe beschränken, wo wirklich ein Nutzen vorhanden ist, 50 bis 70 Jahre, ist diese Reduktion etwa 30%. Und Sie sehen hier, dass bei Frauen unter 50 Jahren die Früherkennung keine Mortalitätsreduktion zeigt.

Das ist auch in Übereinstimmung mit der Studie aus Kanada, die speziell zu dieser Frage durchgeführt worden ist. Und Sie sehen, dass bei älteren Frauen über 70 die Wirkung wieder nur sehr gering ist.

Es gibt andere, interessante Sachen bei der Früherkennung. Wenn wir nämlich die erste Früherkennungsstudie, den HIP Trial vergleichen mit den späteren schwedischen Studien (Tabelle 8), da können Sie sehen, dass der Erfolg der Früherkennung, gemessen an den Tumoren, die am Anfang gefunden worden waren, dass dieser Erfolg in der schwedischen Studie sehr viel grösser war, als in der früheren New Yorker Studie. Sie sehen auch, dass in der schwedischen Studie nur 27% der Frauen Metastasen aufwiesen. In der früheren New Yorker Studie 43%. Wenn Sie die Sterbe-Reduktion anschauen, sehen Sie, dass trotz dieser deutlich verbesserten Früherkennungsleistung keine vermehrte Sterbe-Reduktion zu erzielen war.

Und es ist ganz interessant, das hat auch James Mc Cormick in Follies and Fallacies aufgeführt, je länger man die Früherkennungsstudien anschaut über die Jahre, zeigt sich etwas: Je moderner und fehlerfreier, methodisch fehlerfreier die Studien durchgeführt worden sind - oder auch vielleicht unabhängig von der Fehlerfreiheit - umso weniger Sterbe-Reduktion konnten sie erzielen. D.h. nur die frühen Studien vor 30 Jahren haben eine deutliche Sterbe-Reduktion erzielt. Heutige Mammographie-Studien haben das nicht gezeigt. Ich kann Euch auch nicht genau eine Antwort geben, weshalb das so ist. Ich vermute eben, dass die methodische Qualität der Studien zugenommen hat, so dass frühere Ergebnisse teilweise auf Fehlerhaftigkeiten der Studien zurückzuführen sind.

Es gibt eine andere interessante Beobachtung. In der HIP-Studie hat man nämlich festgestellt, dass Frauen mit einem fortgeschritteneren Krebs, die also bereits einen Lymphknotenbefall aufwiesen, eine grössere Moralitäts-Reduktion durch die Früherkennung erwarten konnten als Frauen, bei denen man den Krebs erwischt hatte, bevor überhaupt Metastasen da waren.

Sie sehen also auch hier: Wenn man einen Krebs früher erkennt, daraus lässt sich nicht ableiten, dass dieser Krebs dann besser heilbar ist. Es scheint eher im Gegenteil so zu sein, dass bei Frauen, die bereits fort-geschrittene Brustkrebsstadien aufweisen, dass dort der kurative Effekt einer frühen Behandlung grösser ist als eben bei Frühformen.

Wichtig ist natürlich bei der Früherkennung auch zu schauen, was das in der Praxis bedeutet (Tabelle 9). In der Praxis bedeuten diese 25% Reduktion, die ich Euch aus den schwedischen Studien vorher gezeigt habe, dass 6 von 100'000 Frauen in einem Jahr oder sagen wir 6 von 10'000 Frauen in zehn Jahren einen Nutzen erwarten können. Gleichzeitig werden etwa zehnmal so viele Frauen dem Risiko ausgesetzt, eine Krebsdiagnose zu bekommen, die sonst nicht aufgetreten wäre. Das hat damit zu tun, dass eben im Screening auch Krebse diagnostiziert werden, die keine sind, aufgrund der Fehler in der Pathologie - James McCormick hat vorhin am Beispiel des Zervix-Karzinoms darüber gesprochen -, und es kommt auch dadurch zustande, dass wir in der Früherkennung eben auch Krebse finden, die lebenslänglich stumm und klinisch gutartig verlaufen wären.

Sie sehen, dass die auch Krankheitsphase verlängert wird - etwa dreissigmal häufiger, als ein Nutzen erwartet werden kann. Sie sehen, dass nur 1 von 250 krebsverdächtige Mammographien am Schluss zu einem Nutzen für die Frau führt und dass etwa 5'000 - 10'000 Mammographien gemacht werden müssen, um einen Todesfall zu verhüten. (Diese Zahl ist klein im internationalen Vergleich, weil in den schwedischen Studien die Screening-Intervalle relativ gross waren.)

Die Früherkennung kann wahrscheinlich die Mortalität etwas senken. Ich wollte Ihnen aber am Schluss zeigen, dass in der Praxis die Früherkennung trotzdem sich kaum lohnt, weil die negativen Einflüsse, die eine Frau zu erwarten hat, wahrscheinlich grösser sind als die positiven.

Man kann das Problem der Überdiagnose, das ich vorhin angesprochen habe, auch beobachten aus Zahlen in den USA. In 15 Jahren hat also die Brustkrebshäufigkeit um 33% zugenommen, ohne dass sich die Sterberate am Brustkrebs verändert hat. Also was wir mit der Früherkennung in den USA bewirkt haben, ist, dass heute viel mehr Brustkrebse diagnostiziert werden - weil eben auch falsche pathologische Diagnosen dazu gehören und weil Brustkrebse gefunden werden, die klinisch harmlos sind -, ohne dass man einen Rückgang der alterskorrigierten Sterberate feststellen konnte. (Wir haben vorhin gehört, dass jetzt aus England andere Zahlen bekannt sind. Jane Hall hat die Frage aufgeworfen, ob das die Früherkennung oder die verbesserte Therapie ist.)

Die Wirkuungen lokaler Therapien auf die Mortalität sind in Tabelle 10 zusammengefasst.

Minimale Operation versus keine Operation ist nie richtig untersucht worden. Ich habe Euch vorhin Tamoxifen als nicht-operative Therapie und den historischen Vergleich gezeigt, die offen lassen, ob eine chirurgische Operation, die nicht aus einer palliativen Absicht gemacht wird, sondern in der Absicht, den Krebs heilen zu können - ob überhaupt eine solche Lokaltherapie nützlich ist. Das wissen wir heute nicht.

Trotzdem haben wir immer uns lange Zeit daran aufgehalten, dass wir bei einem frühentdeckten Krebs eine bessere Prognose feststellen können. (Jane Hall hat bereits den leadtime bias vorher angeführt.) Was ich Ihnen hier aber in Abbildung 2 zeigen möchte, ist einmöglicher confounding bias. Wir haben immer nur die Verbindung zwischen dem TNM-Stadium, also zwischen der lokalen Äusserung des Brustkrebses und der Prognose angeschaut. Und diese Verbindung wollen wir behandeln mit einer chirurgischen Resektion. Wenn wir dieses Modell anschauen, wird uns plötzlich klar, wieso das vielleicht gar nichts nützt. Weil eben der bestimmende Faktor der Pfeil 2 sein könnte. Also es ist im Hintergrund die systemische Erkrankung im ganzen Körper, die den Verlauf bestimmt. Und wenn wir die nicht beeinflussen können und nur hier die lokale Manifestation behandeln, kann es eben - ist es leicht erklärbar, dass wir eine nur fragliche Wirkung auf den Verlauf des Brustkrebses haben.

Es ist vielleicht auch interessant, 'mal zu schauen, woran Patientinnen mit Brustkrebs denn sterben (Tabelle 11). Sie können sehen, dass Patientinnen mit einer Frühform des Mammakarzinoms viel häufiger an andern Ursachen sterben, weil eben der Brustkrebs doch nicht so bösartig ist im Verlauf; dass ein Nutzen der Früherkennung in diesen Gruppen am Schluss über die Jahre aufgefressen wird durch andere Erkrankungen. Und Sie sehen, dass in einem fortgeschrittenen Stadium die Wahrscheinlichkeit, dass eine Frau an Brustkrebs sterben wird, viel höher ist.

Diese Feststellung, dass wir ein Epiphänomen behandeln mit der lokalen Therapie, die ist auch in der Literatur und durch Studien mehrfach geäussert worden...

... Das ist Fisher, der hier feststellt: Währenddem die Mastektomie oder eben die lokale Bestrahlung die lokale Äusserung der Krankheit reduzieren kann, hat sieoffenbar keinen Einfluss auf den systemischen Verlauf ferner Metastasen.

Wir haben James Devitt, der sagt - jetzt bezogen auf die lokalen Lymphknoten: Die Lymphknoten sind offenbar nur ein Anzeichen einer schlechten Prognose, aber sie sind nicht der Grund der schlechten Prognose. D.h. wenn man die lokalen Lymphknoten entfernt, wird man die Krankheit auch nicht stoppen können.

Wirkung systemischer Therapie

Wenn wir das systemische Geschehen anschauen, dann müssen wir einen kurzen Blick auf die adjuvante Chemotherapie werfen (Abbildung 3).

Sie sehen hier die Ergebnisse der Antiöstrogen-Behandlung mit Tamoxifen. Sie können sehen, dass die systemische Behandlung - also die systemische gleichzeitig mit der Operation oder gerade im Anschluss an die Operation - ebenfalls zu einer Reduktion der Sterberate führt. Und Sie sehen hier, dass es auch keinen Unterschied macht, ob bereits befallene Lymphknoten vorhanden sind oder keine vorhanden sind. Genau das gleiche Bild zeigt sich für eine Ovarentfernung, die ja auch einen antiöstrogenen Effekt hat, oder für die Polychemotherapie mit Zytostatika.

Hier stelle ich mir natürlich auch die Frage, was bedeutet das für die Praxis (Tabelle 12)?

Sie sehen, dass diese Reduktion von ungefähr 10 bis 15%, die durch die Chemotherapie erzielbar ist, am Schluss in 10 Jahren 4 von 100 Frauen zugute kommt.

Was könnte sich denn dahinter verstecken in der Praxis (Tabelle 13)?Wenn wir mal sagen... - vielleicht liegen wir ungefähr hier. Dann heisst das, eine Patientin, die ich vor mir habe, dass sie mit einer Wahrscheinlichkeit von 20% wegen der Therapie stirbt - also die Chemotherapie kann sie umbringen. Sie kann in 24% umgekehrt von der Chemotherapie gerettet werden, es wird ungefähr in 43% die sowieso gute Prognose nicht beeinflusst, und die schlechte Prognose wird in etwa 13% ebenfalls nicht beeinflusst.

Ich kann Ihnen nicht sagen, wo wir zwischen Szenario I und IV genau liegen - irgendwo liegen wir einfach. Und Sie sehen plötzlich, wenn Sie die individuelle Patientin behandeln wollen, dass Sie dann durch die durchschnittlichen Resultate aus randomisierten Studien - und da bin ich mit Jane Hall auch einig - im Stich gelassen werden.

Die Schlussfolgerung etwa von Henderson, dem bekannten amerikanischen Mammologen, ist denn auch, dass eine chemotherapeutische Behandlung bei Frühformen des Brustkrebses nicht gemacht werden soll, weil eine Frau zu wenig Nutzen erwarten kann und die Nebenwirkungen diesen Nutzen übertreffen.

Für das theoretische Verständnis der Krankheit ist es aber wichtig, dass man also zeigen kann, dass mit einer systemischen Behandlung -und zwar ob Lymphknoten befallen sind oder nicht- sich die Mortalität gleichermassen senken lässt. Eine systemische Behandlung zeigt somit im Gegensatz zur lokalen Tumorkontrolle eine mortalitäsverringernde Wirkung.
Eine andere wichtige Beobachtung zu Brustkrebs stellt diese dar:
Wenn der Brustkrebs aus dem Körper entfernt wird, also für uns von der Medizin nicht mehr sichtbar vorhanden ist, ist dennoch eine Patientin, die einen Brustkrebs gehabt hat, immer mit einem grösseren Risiko behaftet, am Schluss doch an einem Brustkrebs zu sterben, als eine vergleichbar brustgesunde Frau. Die nachweisliche Entfernung der Brustkrebszellen macht aus einer Patientin somit noch keine "brustgesunde" Frau - bleibt die Wirtsanfälligkeit bestehen?

Es scheint so, dass die Früherkennung in der Praxis nichts nützt, weil einerseits systemische Krebsformen häufig sind und eine Früherkennung eben nur ein Epiphänomen beeinflussen kann - die lokale Äusserung und nicht die Krankheit selbst. Die andere grosse Gruppe die wir haben, sind Frauen, die sowieso einen gutartigen Brustkrebsverlauf haben. Und an der guten Prognose werden wir mit der Behandlung nichts wesentliches verändern. Und es bleibt eigentlich nur eine kleine Gruppe übrig, bei der offenbar durch die Vorsorgestudien gezeigt, eine gewisse Wirkung einer frühzeitigen Therapie auf das Überleben vorhanden ist. Brustkrebs ist also nicht eine einheitliche Erkrankung, sondern sie zeigt verschiedene Muster, wie ich sie hier versucht habe, zusammenzufassen.

Der Wirt - "Selbstheilung"

Ich möchte nun auf andere Faktoren eingehen, die den Verlauf des Brustkrebses beeinflussen.

Sie sehen hier von Leonhard Syme vom letzten Symposium, das wir hier in Einsiedeln hatten, seine Feststellung: "Control of Destiny", d.h. die Fähigkeit, sein Schicksal unter Kontrolle zu haben und daraus genügend Lebensfreude ziehen zu können, hängt ab von der Sozialklasse. Und er hat festgestellt, dass bei vielen Krankheiten und Krebs gehört eindeutig dazu, dies den Verlauf weit mehr bestimmt als die medizinischen Interventionen, die wir heute zur Verfügung haben.

Es gibt sogar eine kontrollierte Studie zu dieser Frage (Tabelle 14). Sie wurde durchgeführt bei Frauen mit fortgeschrittenem Mammakarzinom (Alastair Cunningham hat diese am letzten Symposium uns auch vorgestellt). Und Sie sehen, es scheint, dass im Gegensatz zur Chemotherapie oder zur Früherkennung oder zur Lokaltherapie, seelische Arbeit oder eben psychosoziale Gruppentherapie eine recht große Wirkung auf den Verlauf haben könnte.

Devitt stellt aufgrund ähnlicher Überlegungen oder der geichen Überlegung, wie ich sie hier jetzt vorgestellt hatte, die Frage, ob ein Wachstum des Brustkrebses nicht eine mangelnde Widerstandskraft des Körpers darstelle, dem Krebsgeschehen Herr zu werden.

Interessant ist, dass wir aus anderen Gebieten wie der AIDS-Forschung sehr ähnliche Beobachtungen heute antreffen können. Levy hat ganz kürzlich im Lancet die Schlussfolgerung aufgestellt, dass AIDS und Krebs sich in vieler Beziehung gleichen. Und er sagt, einen Krebs der schon im Körper vorhanden ist, einfach ruhig zu behalten - also die Körperkontrolle so weit zu verbessern, dass dieser Krebs gar nicht wächst -, ist vielleicht viel einfacher zu erreichen als den Krebs aus dem Körper herauszubekommen. Und er sagt, das gleiche gelte auch für den HIV-Virus.

Ist Brustkrebs ein Problem der Krebszelle oder des Wirtes? Das führt mich zum Schluss von meinen Überlegungen. Sie sehen in Tabelle 15, wie Brustkrebs verstanden wird: Wir haben als "Agens". die Krebszelle mit einem stark variierenden Verlauf. Also die Krebszelle stellt man sich vor, hat eine stark variierende Aggressivität, und die führt zu den verschiedenen Verläufen. Die Anfälligkeit beim Wirt, d.h. die Abwehrkraft des Körpers ist kein Thema. Und die Prognose hat sich seit Jahrzehnten nicht verändert durch alle Bemühungen, diesen aggressiven Krebs hier entfernen zu wollen.

Wir kennen andere aggressive Krankheiten. Ich nehme die Tuberkulose. Die Tuberkulose wurde vor hundert Jahren vielleicht noch ähnlich betrachtet wie Brustkrebs. Heute sieht das ganz anders aus. Man sagt, das Bakterium hat eine einheitliche Aggressivität - bei Bakterien Virulenz genannt - und der Wirt ist entscheidend, d.h. die Anfälligkeit der Patienten. Wir wissen das heute, es sind Alkoholkranke und HIV-Kranke, bei denen wir Tuberkulose finden - also der Wirt entscheidet über den Verlauf der Erkrankung und nicht das Bakterium. Und die Prognose über Jahrzehnte ist stark verbessert worden durch die Minderung der materiellen Armut, also durch Haussanierung und eine bessere, ausreichende Ernährung.

Das führt uns wieder zum Brustkrebs, Brustkrebs Heute: Könnte es denn nicht sein, dass die Krebszelle auch eine homogene Aggressivität aufweist? Dass eben die Anfälligkeit des Wirtes entscheidend ist für den Verlauf? Dass die Prognose verbessert werden könnte, wie ich hier etwas provokativ oder hypothetisch formuliere, durch eine Minderung der "geistigen Armut", d.h. durch eine Sanierung des "inneren Hauses" und durch "geistige Ernährung"?

Sie sehen, die Schlussfolgerung ist ganz einfach die: Ich möchte nicht sagen, dass lokale Therapien oder dass die Aggressivität der Krebszelle vielleicht gar keine Rolle spielt, aber sie haben uns in der ganzen Forschung eigentlich kaum etwas gebracht in den letzten Jahrzehnten. Und es wäre wahrscheinlich viel wichtiger, dass man anfängt den Wirt, d.h. den gesamten Menschen, der diese Krankheit bekommt, zu studieren. Und wir wollen das im Workshop A auch machen, indem wir einmal das alte klinische Wissen der chinesischen Medizin einbeziehen, um zu gewissen Hypothesen zu kommen, die dann hoffentlich zu Studien führen können.

Es ist auch lohnend, Feinstein (der jetzt angekommen und im Raum ist), nochmals zu zitieren, wie er sich ausgedrückt hat am 1. Einsiedler Symposium.
Er sagt, was wir heute brauchen, um die Medizin weiter zu bringen, sind Beobachtungen, die Ärzte und Patienten ohne Instrumente direkt machen, die wieder ins Zentrum der Forschung gelangen. Und zufälligerweise ist die chinesische Medizin eine Medizin, die sich fast ganz an den klinischen Beobachtungen und an dem, was der Patient beschreibt und empfindet, orientiert.

DISKUSSION

Anonyma:
Es ist in den Referaten mehrmals angeklungen, wie wichtig es ist, eben nicht die Epiphänomene zu behandeln und zu beachten, sondern zu schauen, was die Patienten definieren. In dem Zusammenhang habe ich eine Frage an Dr. Schmidt und natürlich auch an das Auditorium, wo offenbar ziemlich viel Fachverstand sitzt: Welchen Wert messen Sie im Rahmen der Früherkennung der Selbstuntersuchung durch die Frau selbst bei?

Johannes G. Schmidt:
Ich selbst habe als Mann, und bis heute auch als Arzt, zu wenig Erfahrung. Deshalb kann ich Ihre Frage nur spekulativ beantworten. Ich denke, dass die Brust-Selbstuntersuchung durch eine Frau ein ganz anderer Prozess ist, als eine ärztlich vorgenommene Untersuchung. Deshalb kann man das auch nicht miteinander gleichsetzen. Was es dann bringt und ob es etwas bringen kann, hängt sicher von den Umständen ab. Wenn es aus Angst, aus einem Absicherungsdrang heraus geschieht, wird es wahrscheinlich nichts bringen. Wenn es aus einer Offenheit heraus, sich dem zu stellen, wer man wirklich ist und wie man ist, gemacht wird, kann es vielleicht etwas bringen. Ich kann nur so vage etwas dazu sagen.
 
 
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Layout: Datadiwan eMail: webmeister@datadiwan.de