Auf Leben und Tod
Krebstagebuch
Audre Lorde (1934 - 1992)
Autor: Audre Lorde 
Keywords: Krebstagebuch 
Abstract: Audre Lorde vermittelt in eindringlicher Weise ihre Angst, ihre Kraft und Lebenslust. 
Copyright: Copyright der Texte: Orlanda Frauenverlag
Großgörschenstraße 40, 10827 Berlin 
Copyright der HTML-Gestaltung: Bernhard Harrer, Berlin, 1997. 
14. Oct. 1997 
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Leseprobe:
 
Brustkrebs

Eine Schwarze, lesbisch-feministische Erfahrung

21. September 1978

Der Zorn, den ich letztes Jahr gegen meine rechte Brust empfand, hat sich gelegt, und ich bin froh, dieses Extrajahr gehabt zu haben. Von dem Zeitpunkt an, wo ich das Vorhandensein meiner Brüste akzeptieren konnte, sind sie so überaus kostbar für mich gewesen, daß es ein Jammer wäre, das letzte Lebensjahr der einen von beiden nicht zu genießen. Und ich glaube, ich bin jetzt in einer Weise auf diesen Verlust vorbereitet, wie ich es letzten November noch nicht war - denn jetzt sehe ich es wirklich als Wahl zwischen meiner Brust und meinem Leben, und so gesehen ist es gar keine Frage.

Irgendwie habe ich schon immer gewußt, daß es letztlich darauf hinauslaufen würde, denn ich habe das Ganze nie als abgeschlossene Angelegenheit empfunden. Dies Jahr dazwischen war wie ein Hiatus, eine Atempause in einer Schlacht, in der ich so leicht hätte fallen können, da ich ohne Zweifel eine Kriegerin war. Und in dieser kurzen Zeitspanne schien die Sonne, die Vögel sangen, ich schrieb wichtige Sachen, liebte intensiv und wurde wiedergeliebt. Und auch wenn lebenslanger Grund zur Wut Schuld an diesem Tod meiner rechten Brust sein sollte, würde ich von allem, was ich früher schon nicht akzeptieren konnte, auch jetzt keinen Deut mehr akzeptieren, um meine Brust behalten zu können. Es war eine zwölf Monate lange Gnadenfrist, in der ich die emotionalen Tatsachen/Wahrheiten aufnehmen konnte, auf die ich letztes Jahr in den horrenden Wochen vor der Biopsie zum ersten Mal gestoßen war. Wenn ich tue, was ich muß, weil ich es möchte, ist es weniger wesentlich, wann der Tod kommt, denn dann ist er ein Verbündeter gewesen, der mir die Sporen gegeben hat!

Ich war erleichtert, als der erste Tumor gutartig war, aber ich habe damals zu Frances gesagt: Der wahre Horror wäre, wenn sie behaupten, er sei gutartig, während er es in Wirklichkeit gar nicht ist! Ich denke mein Körper wußte, daß da irgend etwas Bösartiges saß und daß ich mich irgendwann damit auseinandersetzen müßte. Nun, ich bin dabei, und ich tue es, so gut ich kann. Ich wünschte, ich brauchte es nicht zu tun, und ich weiß ja nicht einmal, ob ich es richtig mache, aber eins steht fest: Ich bin heilfroh, daß ich dieses Extrajahr hatte, um mich selbst auf andere Weise lieben zu lernen.

Ich lasse mir die Brust abnehmen, obwohl ich weiß, daß es Alternativen gibt, die zum Teil sehr vernünftig klingen, aber mich nicht wirklich befriedigen ... Das Spiel geht schließlich um Leben und Tod, und da mir mein Leben mehr wert ist als die sinnlichen Wonnen meiner Brust, kann ich es einfach nicht mehr drauf ankommen lassen.

19.30 Uhr. Und doch - auch wenn ich hundert Jahre weinen würde, könnte ich unmöglich den Kummer ausdrücken, den ich in diesem Augenblick empfinde, und die Trauer und den Verlust. Wie haben sich die Amazonen von Dahomey wohl gefühlt. Sie waren noch ganz junge Mädchen! Aber sie taten es freiwillig, für etwas, woran sie glaubten. Vermutlich tue ich das genauso, nur kann ich es zur Zeit nicht fühlen.

Eudora Garrett war nicht die erste Frau, mit der ich körperliche Wärme und Wildheit getauscht habe, aber sie war die erste Frau, mit der ich mich restlos auf die Liebe einließ. Ich erinnere mich noch an das Zögern und die Zärtlichkeit die ich empfand, als ich die tiefen Narben in der Höhlung ihrer rechten Schulter und über ihrer Brust berührte - in jener Nacht, als sie in der klaren, geballten Hitze unseres mexikanischen Frühlings schließlich ihren letzten Schmerz über ihre Brustamputation mit mir teilte. Ich war 19 und sie 47. Nun bin ich 44, und sie ist tot.

In der Nacht der Operation kam Eudora im Traum zu mir in das kleine kalte Krankenhauszimmer, das dem hellen heißen Durcheinander ihres Schlafzimmers in Cuernavaca so unähnlich war. Sie kam in ihrer schlaksigen Löwenmaulgestalt mit ihrem schrägen Zahnlückenlächeln, wir hielten uns eine Weile an den Händen.

Am nächsten Morgen, bevor Frances kam, schrieb ich in mein Tagebuch.
 

Inhaltsangabe (Auszüge)

 
Audre Lorde, Auf Leben und Tod. 
Krebstagebuch 
ISBN 3-929823-09-8
 

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