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Das Online-Magazin
des DATADIWAN
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Ausgabe Nr. 1 /
März 1998 - ISSN 1435-1560
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Zusammenfassung:
„Science Wars" befaßt sich mit einer Welle heftiger Attacken von Naturwissenschaftlern, insbesondere Physikern, auf bestimmte Richtungen der gegenwärtigen „postmodernen" Geisteswissenschaften, die seit 1996 die amerikanische Wissenschaft aufwühlt. Anlaß ist die Relativierung des naturwissenschaftlichen Wahrheitsanspruches durch die Diziplinen der Wissenschaftsgeschichte, -Philosophie und -Soziologie. Der Konstruktivismus z.B. untersucht die historischen, sozialen, psychologischen und politischen Wurzeln und Bedingtheiten der Wissenschaft und stellt den Wissenschaftler nicht als experimentierenden Beobachter und Entdecker feststehender Tatsachen dar, sondern als Konstrukteur eines Glaubenssystems. Bedroht fühlen sich auch viele Naturwissenschaftler durch den Rückgang von Prestige und Forschungsgeldern in den USA, bedingt durch das Ende des Kalten Krieges und einen sich ankündigenden Paradigmenwechsel in den Naturwissenschaften. Der Wissenschaftskrieg ist somit ein Verteidigungskrieg von Besitzständen. Summary:
Schlüsselwörter:
Keywords:
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Angriff
auf „höheren Aberglauben"
Sokals ganz nach dem Muster anderer „Skeptiker"-Aktionen ausgeführter
Streich war inspiriert von dem 1994 erschienenen Buch „Higher Superstition
(Höherer Aberglaube)" des Biologieprofessors Paul Gross und des Mathematikprofessors
Norman Levitt. In ihm wird „abgerechnet" mit allen, die nach Auffassung
der Autoren „Natürliche Feinde" von Aufklärung und Wissenschaft
sind: Postmoderne, Konstruktivisten und Dekonstruktivisten, „Relativisten",
„Irrationalisten", philosophische Anarchisten, Feministen, Multikulturalisten,
Afrozentriker und Ökologen - mit der ganzen akademischen Linken also.
Sie alle gehören nach Gross und Levitt zu einer enorm angeschwollenen
Flut von Angriffen auf Objektivität, kritisches Denken und Rationalität,
die die wahre Wissenschaft zu zerstören drohe.
Relativierung naturwissenschaftlicher Wahrheitsansprüche
Besonders in Rage bringt die Verteidiger der Vernunft die Relativierung
der naturwissenschaftlichen Wahrheitsansprüche durch die Geisteswissenschaftler.
Der Konstruktivismus z.B. untersucht die historischen, sozialen, psychologischen
und politischen Wurzeln und Bedingtheiten der Wissenschaft und stellt den
Wissenschaftler nicht als experimentierenden Beobachter und Entdecker feststehender
Tatsachen dar, sondern als Konstrukteur eines Glaubenssystems, wie ihm
seine Kritiker etwas überzogen vorwerfen. Für Dekonstruktivisten
gibt es nur „Texte", und der Text der Wissenschaft ist nur eine beliebige
Lesart der Wirklichkeit; eine objektive Erkenntnis und einen privilegierten
Weg zur Wahrheit gibt es für sie nicht. Zudem benützen Dekonstruktivisten
gerne Begriffe aus Mathematik, Physik und Biologie, und gehen mit ihnen,
wie Gross und Levitt bemerken, oft unglaublich sorglos um.
Die „zwei Kulturen"
Manche Beobachter sehen in den „Science Wars" ein Wiederaufleben der
Debatte um die „zwei Kulturen", die der englische Chemiker, Schriftsteller
und Wissenschaftspolitiker C.P.Snow 1959 mit seinem Buch „The Two Cultures"
auslöste. Darin lancierte er das Konzept, daß unsere westlichen
Gesellschaften, ihr Bildungssystem und ihr kulturelles Leben durch einen
tiefen Graben zwischen zwei unterschiedlichen Kulturen geprägt sei
- den Geisteswissenschaften und den Naturwissenschaften. Er stellte die
Geisteswissenschaftler als zänkisch, egoistisch und unproduktiv, reaktionär,
moralisch verkommen und als natürliche Feinde von Wissenschaft und
Modernität dar, und stellte ihnen die Naturwissenschaftler gegenüber,
die von Natur aus dem Gemeinwohl und der Zukunft der Menschheit verpflichtet
seien.
Von Sputnik bis Star Wars
Die Zeit, in der Snows Pamphlet erschien und heftig diskutiert wurde,
nämlich das Ende der fünfziger Jahre, waren die sogenannten „Sputnik-Jahre",
als der Schock der technologischen Überlegenheit der Sowjets im Weltraum
einen Wettstreit um technologische Wettbewerbsfähigkeit und Modernisierung
auslöste. In der Folgezeit wurde das Wettforschen zum untrennbaren
Bestandteil des Wettrüstens im kalten Krieg, und die massiv erhöhten
öffentlichen Mittel für Forschung und Technologie und die beschleunigte
Technologisierung des öffentlichen Lebens führten zu eben jener
massiven Aufwertung im Status der Naturwissenschaften - insbesondere ihrer
Leitwissenschaft Physik, der härtesten aller „Hard Sciences"- die
Snow erstrebt hatte. Als Kulmination dieser Entwicklung kann man das „Star
Wars"-Projekt der achtziger Jahre betrachten.
Wissenschaft
wird selbst Untersuchungsobjekt
Doch die gleiche historische Entwicklung, die zur beherrschenden Stellung
der Naturwissenschaften in der amerikanischen - und weitgehend auch der
gesamten westlichen Kultur - geführt hat, führte in den letzten
drei Jahrzehnten auch dazu, daß eine Untersuchung des „Wesens der
Naturwissenschaften" auf zunehmendes Interesse stieß. Die durch Hiroshima,
DDT und Tschernobyl symbolisierten Bedrohungen für Leben und Gesundheit
durch die Auswirkungen von Wissenschaft und Technologie führten zu
zunehmenden Ängsten und Kritik in der Öffentlichkeit. Neben offener
Wissenschaftsfeindlichkeit kam es auch zu einer Reflexion über das
Wesen, die Grundlagen und die gesellschaftliche und menschliche Bedingtheit
der Naturwissenschaften, die von innerhalb der Wissenschaft ausging. Die
Disziplinen der Wissenschaftsgeschichte, Wissenschaftsphilosophie und Wissenschaftssoziologie,
die zuvor kaum eine Rolle gespielt hatten, nahmen einen gewaltigen Aufschwung
und weltweit wurden Institute für ihre Tätigkeit gegründet.
Auseinandersetzung über wissenschaftliche Forschungsmethoden
findet erst heute statt
Wie Lüthy schreibt, ist es erstaunlich, daß die heutige
Auseinandersetzung nicht schon vor 20 Jahren stattgefunden hat, als die
radikalsten der heutigen wissenschaftskritischen Positionen erarbeitet
wurden. Damals bestritt Paul Feyerabend überhaupt die Rationalität
wissenschaftlicher Forschungsmethoden und stellte in sich geschlossene
Vorstellungssysteme wie die Astrologie auf die gleiche Stufe wie die Physik
(„Anything goes"). Thomas Kuhn präsentierte seine einflußreiche
Theorie des Paradigmenwechsels, nach der Fortschritt in der Wissenschaft
kein kontinuierlicher Prozeß der Wissensakkumulation ist, sondern
in der Form wissenschaftlicher Revolutionen mit einer relativ plötzlichen
Übernahme neuer „Paradigmen" und Verwerfung bisheriger Erklärungsmodelle
geschieht.
Der wissenschaftssoziologischer Ansatz
Die Edinburgher wissenschaftssoziologische Schule, begründet von
der einflußreichen „Science Unit" an der Universität von Edinburgh
Mitte der sechziger Jahre, entwickelte ein soziologisches Modell wissenschaftlicher
Konsensbildung. Sie untersucht die gesellschaftliche Bedeutung der Wissenschaft,
ohne ein Urteil über die Wahrheit verschiedener Auffassungen und Argumente
abzugeben. Doch gerade diese neutrale Haltung hat zum Vorwurf geführt,
die Edinburgher Schule würde die moderne Wissenschaft für ein
reines Glaubenssystem ohne Verankerung in der wirklichen Welt halten. Tatsächlich
ist in dem relativierenden Pluralismus der Wissenschaftssoziologen die
Ablehnung einer der wichtigsten Grundpfeiler des naturwissenschaftlichen
Weltbildes enthalten: der Auffassung, daß es nur eine Wahrheit geben
könne und eine Aussage über die Natur entweder wahr oder dann
falsch sei. Und daß diese Wahrheit vollkommen unabhängig von
den historischen und gesellschaftlichen Bedingungen unter denen die Wissenschaftler
arbeiten sowie von der Persönlichkeit der beteiligten Forscher sei.
Ein neueres Hauptwerk der wissenschaftssoziologischen Denkrichtung ist
Andrew Pickerings Buch „Constructing Quarks", in dem der Autor die Geburt
des Standardmodells der Teilchenphysik als kollektive Konstruktion eines
Vorstellungsmodells beschreibt. Es brachte ihm von der Partei der Angreifer
im Wissenschaftskrieg den Vorwurf ein, Naturwissenschaft als bloßes
kulturelles Konstrukt darzustellen.
Denkmodelle der Naturwissenschaften
Ein weiteres wissenschaftssoziologisches Werk, das ihre Kritik auf
sich gezogen hat, ist „The Golem" von Collins und Pinch, in dem gezeigt
wird, daß naturwissenschaftliche „Tatsachen" nicht dadurch entstehen,
daß sie durch die richtige Fragestellung und ein geeignetes Experiment
„entdeckt" werden. In einer Serie von sieben Fallstudien zu berühmten
und weniger bekannten wissenschaftlichen Episoden, darunter Relativitätstheorie,
Kalte Fusion und chemische Gedächtnisübertragung, zeigen die
britischen Professoren, daß Wissenschaft in Wirklichkeit nicht so
klar und sauber vor sich geht. Experimente mit eindeutigem Ausgang fanden
sie keine; entscheidend für die Herausbildung wissenschaftlicher Gewißheit
war vielmehr in allen Fällen die Interpretation mit Hilfe eines Denkmodells,
auf das man sich einigen konnte. Hundertprozentige Gewißheit könne
selbst die „harte" Wissenschaft nicht liefern. Für den Bürger,
der heute über wissenschaftliche und technologische Fragen mitentscheiden
müßte, sei es wichtig zu wissen, wie Wissenschaft wirklich funktioniere,
statt ihm wie bisher den Mythos von der Unfehlbarkeit der Wissenschaft
zu servieren. Nur so könne er begreifen, warum in einem wissenschaftlichen
Streit stets beide Parteien über Experten und Expertisen mit guten
Argumenten verfüge. Die Wissenschaft sei kein Gott, sondern eher wie
der Golem der Kabbala, eine mächtige, potentiell gefährliche
Kreatur, die zwar sanft und hilfsbereit sei, aber auch jeden Moment Amok
laufen könne. Wie der Golem trage sie zwar einen Zettel mit dem Wort
„Wahrheit" auf der Stirn, kenne die Wahrheit selbst aber noch nicht und
sei auf kluge und sensible Lenkung angewiesen.
Die Ursachen des Wissenschaftskrieges
„The Golem", 1993 erschienen, war nach seinem Erscheinen mehrfach preisgekrönt
und in sieben Sprachen übersetzt worden. Es sprach zunächst auch
Naturwissenschaftler an, die in den Fallstudien die eigene konkrete Forschungswirklichkeit
erkannten. Mit dem Sokal-Artikel fand jedoch ein Umschwung in seiner Beurteilung
statt - das Buch wurde plötzlich zum Inbegriff dessen, was die Verteidiger
der exakten Wissenschaften im Wissenschaftskrieg an den Geisteswissenschaften
für gefährlich hielten. In der Fachzeitschrift „Physics Today"
wurden die Autoren letzten Sommer aufgefordert, in ein defektes Flugzeug
zu steigen, um zu prüfen, ob Wissenschaft funktioniere oder nicht.
Die ersten Opfer der Science Wars
Der Wissenschaftskrieg eskalierte immer mehr. Im November griff Sokal
die französische Postmoderne auf ihrem eigenen Territorium an. Zusammen
mit seinem belgischen Kollegen Jean Bricmont attackierte er in dem Buch
„Impostures intellectuelles" Jacques Lacan, Jean Baudrillard, Luce Irigaray,
Paul Virilio und Bruno Latour als Ignoranten und „intellektuelle Hochstapler".
Die „Science Wars" haben auch bereits erste Opfer gefordert. Zu ihnen gehört
der renommierte Wissenschaftshistoriker Norton Wise, der Ausbildung nach
selbst Physiker, der in einem Leserbrief an die „New York Review of Books"
maßvolle Kritik am Physiker Steven Weinberg wegen dessen Verteidigung
von Sokals „Streich" geübt hatte. Wegen des Leserbriefs scheiterte,
trotz fachlicher Qualifikation, seine Wahl als Professor an das Institute
of Advanced Study in Princeton. Mit der Ablehnung von Wise, der auch Fellow
am Berliner Wissenschaftskolleg war und sich gelegentlich als Gast des
Max-Planck-Institutes für Wissenschaftsgeschichte in Berlin aufhält,
ist bereits der dritte Versuch gescheitert, „Science Studies" am renommierten
Institut in Princeton zu etablieren, wo schon Einstein und Gödel geforscht
hatten. Jedesmal legten jene Naturwissenschaftler ihr Veto ein, die wohl
fürchten, sich mit einem Wissenschaftshistoriker wie Wise einen Zweifler
an der Unabhängigkeit naturwissenschaftlicher Wahrheitsansprüche
von kulturellen und sozialen Bedingungen ins Haus zu holen, wie der Direktor
des Max-Planck-Institutes für Wissenschaftsgeschichte in Berlin, Jürgen
Renn, schreibt. Ebenfalls wegen des Wissenschaftskrieges wurde die langjährige
Sachbuch-Redakteurin der Wissenschaftszeitschrift „Science", Katherine
Livingston, gefeuert. Sie hatte in dem Hausblatt der amerikanischen Gesellschaft
zur Förderung der Wissenschaften eine polemisch-kritische Besprechung
eines Buches besorgter Naturwissenschaftler abgedruckt, was ihr als eine
Art Hochverrat ausgelegt wurde.
Prestige und Forschungsgeldern
Warum also dieser Umschwung - weshalb fanden die „Science Wars" nicht
schon zur Zeit Feyerabends und Kuhns statt, was ist der Grund für
den plötzlichen und erbitterten Angriff der „Hard Science"-Partisanen
auf die Geisteswissenschaften? Wewetzer weist darauf hin, daß die
amerikanischen Naturwissenschaftler in den letzten Jahren eine Serie von
Kränkungen ihres ehedem stolzen Selbstbewußtseins hinnehmen
mußten. Einst als Elite der freien Welt, führend in Forschung
und Technologie und Baumeister der Moderne, gehätschelt und mit hohem
gesellschaftlichem Status und beinahe unbegrenzten Forschungsgeldern versehen,
brachte das Ende des Kalten Krieges dem Wirtschaftszweig Wissenschaft,
in den USA zu 70% von Militär und Geheimdiensten finanziert, einen
empfindlichen Rückgang von Prestige und Forschungsgeldern. Das Scheitern
von Reagans Projekt „Star Wars" und der Baustopp beim texanischen Superteilchenbeschleuniger
markieren diesen empfindlichen Einschnitt, der vor allem die Physik und
in ihrem Bereich in erster Linie die Hochenergiephysik betraf. Es ist kein
Zufall, daß es sich bei den Angreifern in den „Science Wars" vor
allem um Physiker handelt. Gewohnt, als Crème de la Crème
der Naturwissenschaftler im Besitz des für sämtliche anderen
Wissenschaften maßgebenden Gralswissens zu sein, klammern sie sich
nun in der Krise um so heftiger an die fixe Idee, sie seien in einem Generalangriff
der Geisteswissenschaften die Hüter der abendländischen Vernunft,
müßten in der anbrandenden Flutwelle der Irrationalität
den Felsen der unverrückbaren Rationalität markieren.
Symptom
für Paradigmenwandel
In Wirklichkeit ist der Frontverlauf in den „Science Wars", wie Wewetzer
scheibt, gar nicht so eindeutig, daß man problemlos Rationalisten
und Irrationalisten, links und rechts, gut und böse unterscheiden
könnte. Gerade Sokal, der sich als entschiedener Verteidiger des naturwissenschaftlichen
Denkens als Linker und Feminist bezeichnet, ist dafür ein gutes Beispiel.
Man kann bestimmt nicht, wie das die Verteidiger der naturwissenschaftlichen
Vorherrschaft tun, fundamentalistische Wissenschaftsgegner mit Kritikern
der Überheblichkeit mancher Wissenschaftler oder Fürsprechern
einer Erweiterung des Wissenschaftsbegriffes in einen Topf werfen. Wie
Jürgen Renn schreibt, erfordert der Versuch der „Science Studies",
die Wissenschaftsentwicklung zugleich als Erkenntnisfortschritt und als
kulturhistorischen Prozeß zu begreifen, eine außerordentlich
schwierige Gratwanderung zwischen den Disziplinen, bei der es leicht zu
Abstürzen kommen kann. Nur diejenigen, die am Erfolg eines solchen
Versuches gar nicht interessiert seien, könnten Sokals Fälschung
als einen Jux betrachten.
Neues Wissenschaftsverständnis
Zu guter letzt ist der Hinweis angebracht - er fehlt in den verwendeten
Quellen - daß die „Science Wars" auch als Symptome für die Auseinandersetzungen
betrachtet werden können, die die Herausbildung eines neuen Wissenschaftsverständnisses
begleiten. Wir stehen mitten in einem Paradigmenwechsel, der allerdings
bereits vor Jahrzehnten eingesetzt hat und wohl noch länger nicht
abgeschlossen ist. Lüthy weist darauf hin, daß es gerade die
Brückenbauer zwischen Geistes- und Naturwissenschaften sind, denen
der Angriff gilt. Wenn auch die Kritik am sorglosen Umgang mit naturwissenschaftlichen
Inhalten und mangelnder Kenntnis der Naturwissenschaften gewiß in
vielen Fällen berechtigt ist, so wird auf der anderen Seite der Beitrag
der geisteswissenschaftlichen und literarisch-künstlerischen Herangehensweisen
zur Entwicklung des entstehenden neuen Paradigmas für die Wissenschaft
bestimmt nicht zu vernachlässigen sein.
27. 2. 1998 |
Copyright: 1998 Marco Bischof
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