Das Online-Magazin des DATADIWAN
Ausgabe Nr. 1 / März 1998 - ISSN 1435-1560 
 
Science Wars - Wissenschaftskrieg
von Marco Bischof
 
Zusammenfassung: 
„Science Wars" befaßt sich mit einer Welle heftiger Attacken von Naturwissenschaftlern, insbesondere Physikern, auf bestimmte Richtungen der gegenwärtigen „postmodernen" Geisteswissenschaften, die seit 1996 die amerikanische Wissenschaft aufwühlt. 
Anlaß ist die Relativierung des naturwissenschaftlichen Wahrheitsanspruches durch die Diziplinen der Wissenschaftsgeschichte, -Philosophie und -Soziologie. Der Konstruktivismus z.B. untersucht die historischen, sozialen, psychologischen und politischen Wurzeln und Bedingtheiten der Wissenschaft und stellt den Wissenschaftler nicht als experimentierenden Beobachter und Entdecker feststehender Tatsachen dar, sondern als Konstrukteur eines Glaubenssystems. 
Bedroht fühlen sich auch viele Naturwissenschaftler durch den Rückgang von Prestige und Forschungsgeldern in den USA, bedingt durch das Ende des Kalten Krieges und einen sich ankündigenden Paradigmenwechsel in den Naturwissenschaften. Der Wissenschaftskrieg ist somit ein Verteidigungskrieg von Besitzständen. 

Summary: 
"Science Wars" discusses the wave of strong attacks coming from natural scientists, especially from physicists, against the specific directions of the current "postmodern" humanities' scholars, which has been stirring up the American science scene since 1996. 
The occasion for this debate is the relativizing of natural scientific claims in the disciplines History of Science, Philosophy of Science, and Sociology of Science. Contructivism, for example, studies the historical, social, psychological ,and political roots and relativities of science and portrays the scientist not only as an experimental observer and discoverer, but rather as a designer of a system of beliefs. 
Many natural scientists also feel threatened by the decline in prestige and funding in the USA, a direct result of both the end of the Cold War and the announced paradigm shift in the natural sciences. Hence, the science wars is the defensive war for possessory titles. 

Schlüsselwörter: 
Science Wars, Wissenschaftskrieg, Paradigmenwechsel, Konstruktivismus, Dekonstruktivismus, Wissenschaftskritik, Naturwissenschaften, Wissenschaftsgeschichte, akademische Linke, Postmoderne, Relativismus, Wissenschaftsphilosophie 

Keywords: 
Science wars, paradigm change, academic left, constructivism, deconstructivism, post-modernism, relativism, criticism of science, science, history of science, philosophy of science

 
Inhalt:
Sokals „Entlarvung der geisteswissenschaftlichen Scharlatanerie"
Angriff auf „höheren Aberglauben"
Die „zwei Kulturen"
Wissenschaft wird selbst Untersuchungsobjekt
Symptom für Paradigmenwandel
Quellen
 
Sokals „Entlarvung der geisteswissenschaftlichen Scharlatanerie"
In Amerika findet zur Zeit eine Auseinandersetzung statt, die ein aufschlußreiches Licht auf die Geburtswehen einer neuen  Auffassung von Wissenschaft wirft. 1995 verfaßte Alan Sokal, Physikprofessor an der New York University, einen Aufsatz mit dem Titel „Transgressing the Boundaries - Towards a Transformative Hermeneutics of Quantum Gravity", den er in der Zeitschrift „Social Text" veröffentlichte. Diese politisch links stehende Zeitschrift für Literaturtheorie wird von der Duke University in Durham (North Carolina) herausgegeben.
 
Ein Wissenschaftskrieg wird ausgelöst
Als Angriff auf die „Akademische Linke" war denn Sokals Aufsatz auch gedacht, der einen veritablen Wissenschaftskrieg auslöste. In ihm versuchte Sokal den Jargon der akademischen Postmoderne nachzuahmen mit Formulierungen wie „die Historizität von Pi" oder „Morphogenetik, ein neuer noch spekulativer Zweig der mathematischen Physik". Der Aufsatz gipfelte in der Forderung nach einer „befreiten, postmodernen Wissenschaft", in der sich Quantenphysik, New-Age-Philosophie, französischer Dekonstruktivismus und Chaostheorie vereinigen sollten. Kurz nach dem Erscheinen enthüllte Sokal in einer anderen Zeitschrift, der Aufsatz sei als Scherz gedacht gewesen; seine Annahme durch die Zeitschrift zeige, welcher Unsinn heute unter dem Etikett einer geisteswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen Inhalten verbreitet werde und wie inkompetent die Geisteswissenschaftler in der Tradition der strukturalistischen „Diskursanalyse" mit diesen Inhalten umgehen würden. Zusammen mit vielen seiner Kollegen begrüßte der renommierte Physiker Steven Weinberg Sokals Fälschung, weil sie die öffentliche Aufmerksamkeit auf einen Mißstand lenke. Weinberg setzte sich in einem längeren Beitrag zur Sokal-Affäre für ein klare Trennung zwischen rationalem naturwissenschaftlichem Denken und „irrationalen Tendenzen" ein, eine Trennung, die er durch die neue Disziplin der „Science Studies" - historische sowie sozial- und kulturwissenschaftlichen Untersuchungen zur Entwicklung der Naturwissenschaften - gefährdet sieht.

Angriff auf „höheren Aberglauben"
Sokals ganz nach dem Muster anderer „Skeptiker"-Aktionen ausgeführter Streich war inspiriert von dem 1994 erschienenen Buch „Higher Superstition (Höherer Aberglaube)" des Biologieprofessors Paul Gross und des Mathematikprofessors Norman Levitt. In ihm wird „abgerechnet" mit allen, die nach Auffassung der Autoren „Natürliche Feinde" von Aufklärung und Wissenschaft sind: Postmoderne, Konstruktivisten und Dekonstruktivisten, „Relativisten", „Irrationalisten", philosophische Anarchisten, Feministen, Multikulturalisten, Afrozentriker und Ökologen - mit der ganzen akademischen Linken also. Sie alle gehören nach Gross und Levitt zu einer enorm angeschwollenen Flut von Angriffen auf Objektivität, kritisches Denken und Rationalität, die die wahre Wissenschaft zu zerstören drohe.
 
Relativierung naturwissenschaftlicher Wahrheitsansprüche
Besonders in Rage bringt die Verteidiger der Vernunft die Relativierung der naturwissenschaftlichen Wahrheitsansprüche durch die Geisteswissenschaftler. Der Konstruktivismus z.B. untersucht die historischen, sozialen, psychologischen und politischen Wurzeln und Bedingtheiten der Wissenschaft und stellt den Wissenschaftler nicht als experimentierenden Beobachter und Entdecker feststehender Tatsachen dar, sondern als Konstrukteur eines Glaubenssystems, wie ihm seine Kritiker etwas überzogen vorwerfen. Für Dekonstruktivisten gibt es nur „Texte", und der Text der Wissenschaft ist nur eine beliebige Lesart der Wirklichkeit; eine objektive Erkenntnis und einen privilegierten Weg zur Wahrheit gibt es für sie nicht. Zudem benützen Dekonstruktivisten gerne Begriffe aus Mathematik, Physik und Biologie, und gehen mit ihnen, wie Gross und Levitt bemerken, oft unglaublich sorglos um.

Die „zwei Kulturen"
Manche Beobachter sehen in den „Science Wars" ein Wiederaufleben der Debatte um die „zwei Kulturen", die der englische Chemiker, Schriftsteller und Wissenschaftspolitiker C.P.Snow 1959 mit seinem Buch „The Two Cultures" auslöste. Darin lancierte er das Konzept, daß unsere westlichen Gesellschaften, ihr Bildungssystem und ihr kulturelles Leben durch einen tiefen Graben zwischen zwei unterschiedlichen Kulturen geprägt sei - den Geisteswissenschaften und den Naturwissenschaften. Er stellte die Geisteswissenschaftler als zänkisch, egoistisch und unproduktiv, reaktionär, moralisch verkommen und als natürliche Feinde von Wissenschaft und Modernität dar, und stellte ihnen die Naturwissenschaftler gegenüber, die von Natur aus dem Gemeinwohl und der Zukunft der Menschheit verpflichtet seien.
 
Von Sputnik bis Star Wars
Die Zeit, in der Snows Pamphlet erschien und heftig diskutiert wurde, nämlich das Ende der fünfziger Jahre, waren die sogenannten „Sputnik-Jahre", als der Schock der technologischen Überlegenheit der Sowjets im Weltraum einen Wettstreit um technologische Wettbewerbsfähigkeit und Modernisierung auslöste. In der Folgezeit wurde das Wettforschen zum untrennbaren Bestandteil des Wettrüstens im kalten Krieg, und die massiv erhöhten öffentlichen Mittel für Forschung und Technologie und die beschleunigte Technologisierung des öffentlichen Lebens führten zu eben jener massiven Aufwertung im Status der Naturwissenschaften - insbesondere ihrer Leitwissenschaft Physik, der härtesten aller „Hard Sciences"- die Snow erstrebt hatte. Als Kulmination dieser Entwicklung kann man das „Star Wars"-Projekt der achtziger Jahre betrachten.

Wissenschaft wird selbst Untersuchungsobjekt
Doch die gleiche historische Entwicklung, die zur beherrschenden Stellung der Naturwissenschaften in der amerikanischen - und weitgehend auch der gesamten westlichen Kultur - geführt hat, führte in den letzten drei Jahrzehnten auch dazu, daß eine Untersuchung des „Wesens der Naturwissenschaften" auf zunehmendes Interesse stieß. Die durch Hiroshima, DDT und Tschernobyl symbolisierten Bedrohungen für Leben und Gesundheit durch die Auswirkungen von Wissenschaft und Technologie führten zu zunehmenden Ängsten und Kritik in der Öffentlichkeit. Neben offener Wissenschaftsfeindlichkeit kam es auch zu einer Reflexion über das Wesen, die Grundlagen und die gesellschaftliche und menschliche Bedingtheit der Naturwissenschaften, die von innerhalb der Wissenschaft ausging. Die Disziplinen der Wissenschaftsgeschichte, Wissenschaftsphilosophie und Wissenschaftssoziologie, die zuvor kaum eine Rolle gespielt hatten, nahmen einen gewaltigen Aufschwung und weltweit wurden Institute für ihre Tätigkeit gegründet.
 
Auseinandersetzung über wissenschaftliche Forschungsmethoden findet erst heute statt
Wie Lüthy schreibt, ist es erstaunlich, daß die heutige Auseinandersetzung nicht schon vor 20 Jahren stattgefunden hat, als die radikalsten der heutigen wissenschaftskritischen Positionen erarbeitet wurden. Damals bestritt Paul Feyerabend überhaupt die Rationalität wissenschaftlicher Forschungsmethoden und stellte in sich geschlossene Vorstellungssysteme wie die Astrologie auf die gleiche Stufe wie die Physik („Anything goes"). Thomas Kuhn präsentierte seine einflußreiche Theorie des Paradigmenwechsels, nach der Fortschritt in der Wissenschaft kein kontinuierlicher Prozeß der Wissensakkumulation ist, sondern in der Form wissenschaftlicher Revolutionen mit einer relativ plötzlichen Übernahme neuer „Paradigmen" und Verwerfung bisheriger Erklärungsmodelle geschieht.
 
Der wissenschaftssoziologischer Ansatz
Die Edinburgher wissenschaftssoziologische Schule, begründet von der einflußreichen „Science Unit" an der Universität von Edinburgh Mitte der sechziger Jahre, entwickelte ein soziologisches Modell wissenschaftlicher Konsensbildung. Sie untersucht die gesellschaftliche Bedeutung der Wissenschaft, ohne ein Urteil über die Wahrheit verschiedener Auffassungen und Argumente abzugeben. Doch gerade diese neutrale Haltung hat zum Vorwurf geführt, die Edinburgher Schule würde die moderne Wissenschaft für ein reines Glaubenssystem ohne Verankerung in der wirklichen Welt halten. Tatsächlich ist in dem relativierenden Pluralismus der Wissenschaftssoziologen die Ablehnung einer der wichtigsten Grundpfeiler des naturwissenschaftlichen Weltbildes enthalten: der Auffassung, daß es nur eine Wahrheit geben könne und eine Aussage über die Natur entweder wahr oder dann falsch sei. Und daß diese Wahrheit vollkommen unabhängig von den historischen und gesellschaftlichen Bedingungen unter denen die Wissenschaftler arbeiten sowie von der Persönlichkeit der beteiligten Forscher sei. Ein neueres Hauptwerk der wissenschaftssoziologischen Denkrichtung ist Andrew Pickerings Buch „Constructing Quarks", in dem der Autor die Geburt des Standardmodells der Teilchenphysik als kollektive Konstruktion eines Vorstellungsmodells beschreibt. Es brachte ihm von der Partei der Angreifer im Wissenschaftskrieg den Vorwurf ein, Naturwissenschaft als bloßes kulturelles Konstrukt darzustellen.
 
Denkmodelle der Naturwissenschaften
Ein weiteres wissenschaftssoziologisches Werk, das ihre Kritik auf sich gezogen hat, ist „The Golem" von Collins und Pinch, in dem gezeigt wird, daß naturwissenschaftliche „Tatsachen" nicht dadurch entstehen, daß sie durch die richtige Fragestellung und ein geeignetes Experiment „entdeckt" werden. In einer Serie von sieben Fallstudien zu berühmten und weniger bekannten wissenschaftlichen Episoden, darunter Relativitätstheorie, Kalte Fusion und chemische Gedächtnisübertragung, zeigen die britischen Professoren, daß Wissenschaft in Wirklichkeit nicht so klar und sauber vor sich geht. Experimente mit eindeutigem Ausgang fanden sie keine; entscheidend für die Herausbildung wissenschaftlicher Gewißheit war vielmehr in allen Fällen die Interpretation mit Hilfe eines Denkmodells, auf das man sich einigen konnte. Hundertprozentige Gewißheit könne selbst die „harte" Wissenschaft nicht liefern. Für den Bürger, der heute über wissenschaftliche und technologische Fragen mitentscheiden müßte, sei es wichtig zu wissen, wie Wissenschaft wirklich funktioniere, statt ihm wie bisher den Mythos von der Unfehlbarkeit der Wissenschaft zu servieren. Nur so könne er begreifen, warum in einem wissenschaftlichen Streit stets beide Parteien über Experten und Expertisen mit guten Argumenten verfüge. Die Wissenschaft sei kein Gott, sondern eher wie der Golem der Kabbala, eine mächtige, potentiell gefährliche Kreatur, die zwar sanft und hilfsbereit sei, aber auch jeden Moment Amok laufen könne. Wie der Golem trage sie zwar einen Zettel mit dem Wort „Wahrheit" auf der Stirn, kenne die Wahrheit selbst aber noch nicht und sei auf kluge und sensible Lenkung angewiesen.
 
Die Ursachen des Wissenschaftskrieges
„The Golem", 1993 erschienen, war nach seinem Erscheinen mehrfach preisgekrönt und in sieben Sprachen übersetzt worden. Es sprach zunächst auch Naturwissenschaftler an, die in den Fallstudien die eigene konkrete Forschungswirklichkeit erkannten. Mit dem Sokal-Artikel fand jedoch ein Umschwung in seiner Beurteilung statt - das Buch wurde plötzlich zum Inbegriff dessen, was die Verteidiger der exakten Wissenschaften im Wissenschaftskrieg an den Geisteswissenschaften für gefährlich hielten. In der Fachzeitschrift „Physics Today" wurden die Autoren letzten Sommer aufgefordert, in ein defektes Flugzeug zu steigen, um zu prüfen, ob Wissenschaft funktioniere oder nicht.
 
Die ersten Opfer der Science Wars
Der Wissenschaftskrieg eskalierte immer mehr. Im November griff Sokal die französische Postmoderne auf ihrem eigenen Territorium an. Zusammen mit seinem belgischen Kollegen Jean Bricmont attackierte er in dem Buch „Impostures intellectuelles" Jacques Lacan, Jean Baudrillard, Luce Irigaray, Paul Virilio und Bruno Latour als Ignoranten und „intellektuelle Hochstapler". Die „Science Wars" haben auch bereits erste Opfer gefordert. Zu ihnen gehört der renommierte Wissenschaftshistoriker Norton Wise, der Ausbildung nach selbst Physiker, der in einem Leserbrief an die „New York Review of Books" maßvolle Kritik am Physiker Steven Weinberg wegen dessen Verteidigung von Sokals „Streich" geübt hatte. Wegen des Leserbriefs scheiterte, trotz fachlicher Qualifikation, seine Wahl als Professor an das Institute of Advanced Study in Princeton. Mit der Ablehnung von Wise, der auch Fellow am Berliner Wissenschaftskolleg war und sich gelegentlich als Gast des Max-Planck-Institutes für Wissenschaftsgeschichte in Berlin aufhält, ist bereits der dritte Versuch gescheitert, „Science Studies" am renommierten Institut in Princeton zu etablieren, wo schon Einstein und Gödel geforscht hatten. Jedesmal legten jene Naturwissenschaftler ihr Veto ein, die wohl fürchten, sich mit einem Wissenschaftshistoriker wie Wise einen Zweifler an der Unabhängigkeit naturwissenschaftlicher Wahrheitsansprüche von kulturellen und sozialen Bedingungen ins Haus zu holen, wie der Direktor des Max-Planck-Institutes für Wissenschaftsgeschichte in Berlin, Jürgen Renn, schreibt. Ebenfalls wegen des Wissenschaftskrieges wurde die langjährige Sachbuch-Redakteurin der Wissenschaftszeitschrift „Science", Katherine Livingston, gefeuert. Sie hatte in dem Hausblatt der amerikanischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften eine polemisch-kritische Besprechung eines Buches besorgter Naturwissenschaftler abgedruckt, was ihr als eine Art Hochverrat ausgelegt wurde.
 
Prestige und Forschungsgeldern
Warum also dieser Umschwung - weshalb fanden die „Science Wars" nicht schon zur Zeit Feyerabends und Kuhns statt, was ist der Grund für den plötzlichen und erbitterten Angriff der „Hard Science"-Partisanen auf die Geisteswissenschaften? Wewetzer weist darauf hin, daß die amerikanischen Naturwissenschaftler in den letzten Jahren eine Serie von Kränkungen ihres ehedem stolzen Selbstbewußtseins hinnehmen mußten. Einst als Elite der freien Welt, führend in Forschung und Technologie und Baumeister der Moderne, gehätschelt und mit hohem gesellschaftlichem Status und beinahe unbegrenzten Forschungsgeldern versehen, brachte das Ende des Kalten Krieges dem Wirtschaftszweig Wissenschaft, in den USA zu 70% von Militär und Geheimdiensten finanziert, einen empfindlichen Rückgang von Prestige und Forschungsgeldern. Das Scheitern von Reagans Projekt „Star Wars" und der Baustopp beim texanischen Superteilchenbeschleuniger markieren diesen empfindlichen Einschnitt, der vor allem die Physik und in ihrem Bereich in erster Linie die Hochenergiephysik betraf. Es ist kein Zufall, daß es sich bei den Angreifern in den „Science Wars" vor allem um Physiker handelt. Gewohnt, als Crème de la Crème der Naturwissenschaftler im Besitz des für sämtliche anderen Wissenschaften maßgebenden Gralswissens zu sein, klammern sie sich nun in der Krise um so heftiger an die fixe Idee, sie seien in einem Generalangriff der Geisteswissenschaften die Hüter der abendländischen Vernunft, müßten in der anbrandenden Flutwelle der Irrationalität den Felsen der unverrückbaren Rationalität markieren.

Symptom für Paradigmenwandel
In Wirklichkeit ist der Frontverlauf in den „Science Wars", wie Wewetzer scheibt, gar nicht so eindeutig, daß man problemlos Rationalisten und Irrationalisten, links und rechts, gut und böse unterscheiden könnte. Gerade Sokal, der sich als entschiedener Verteidiger des naturwissenschaftlichen Denkens als Linker und Feminist bezeichnet, ist dafür ein gutes Beispiel. Man kann bestimmt nicht, wie das die Verteidiger der naturwissenschaftlichen Vorherrschaft tun, fundamentalistische Wissenschaftsgegner mit Kritikern der Überheblichkeit mancher Wissenschaftler oder Fürsprechern einer Erweiterung des Wissenschaftsbegriffes in einen Topf werfen. Wie Jürgen Renn schreibt, erfordert der Versuch der „Science Studies", die Wissenschaftsentwicklung zugleich als Erkenntnisfortschritt und als kulturhistorischen Prozeß zu begreifen, eine außerordentlich schwierige Gratwanderung zwischen den Disziplinen, bei der es leicht zu Abstürzen kommen kann. Nur diejenigen, die am Erfolg eines solchen Versuches gar nicht interessiert seien, könnten Sokals Fälschung als einen Jux betrachten.

Neues Wissenschaftsverständnis
Zu guter letzt ist der Hinweis angebracht - er fehlt in den verwendeten Quellen - daß die „Science Wars" auch als Symptome für die Auseinandersetzungen betrachtet werden können, die die Herausbildung eines neuen Wissenschaftsverständnisses begleiten. Wir stehen mitten in einem Paradigmenwechsel, der allerdings bereits vor Jahrzehnten eingesetzt hat und wohl noch länger nicht abgeschlossen ist. Lüthy weist darauf hin, daß es gerade die Brückenbauer zwischen Geistes- und Naturwissenschaften sind, denen der Angriff gilt. Wenn auch die Kritik am sorglosen Umgang mit naturwissenschaftlichen Inhalten und mangelnder Kenntnis der Naturwissenschaften gewiß in vielen Fällen berechtigt ist, so wird auf der anderen Seite der Beitrag der geisteswissenschaftlichen und literarisch-künstlerischen Herangehensweisen zur Entwicklung des entstehenden neuen Paradigmas für die Wissenschaft bestimmt nicht zu vernachlässigen sein.
27. 2. 1998
Copyright: 1998 Marco Bischof
 
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