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Autor: | Alvan R. Feinstein | |
Keywords: | Frauenheilkunde, evidence based medizine, klinische Forschung, Medizinkritik, Patienteninformation, Evaluation, | |
Abstract: | ||
Copyright: | Texte: Stiftung PARACELSUS HEUTE
Copyright der HTML-Gestaltung: Bernhard Harrer Wissenstransfer |
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Info Jockey's
Comment: |
Abbildungen, Diagramme und Tabellen sind
erhältlich über:
Paracelsus Heute - Stiftung zeitgemässe Praxis und kritische Wissenschaft in der Medizin Furrenmatte 4, CH-8840 Einsiedeln Fax (+41) 055 412 53 65 Tel. 412 47 77 |
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Autoren
Begrüßungen
Die
alternde Frau
Die
schwarze Madonna/Theater
Die
schwangere Frau
Die
krebsgefährdete Frau
Moderne
Medizin
Dr. Johannes G. Schmidt,
Was ist Behandlungsnutzen? - Cholesterin oder vom 1. zum 2. Wissenschaftlichen Einsiedler Symposium
Nora Jacobson,
Die weibliche Brust - Schönheits-Operationen als medizinische Normierung und Perfektionierung des Frauenkörpers
Prof. Karl W. Kratky,
In welchem Sinn ist die moderne Medizin eine Naturwissenschaft? - <<Weiblich-Chaotisches>> in der modernen Physik
Prof. Alvan R. Feinstein,
Krankheitserscheinungen am intakten Menschen - Was für eine Nosologie der Krankheitseinteilung brauchen wir?
Prof. Barbara Katz Rothman,
Entstehung von Leben unter Geburtsschmerzen - Sind Frauen Opfer ohne Wahl?
Jon Rudolf Boner,
Wir meinen, es müsse einen Grund geben, weshalb wir krank oder gesund sind und weshalb diese Krankheit bösartig und jene gutartig verläuft. Wenn wir sehen, wie sich Ursache nach Ursache finden und sich der letztendliche Grund nie festmachen lässt, können wir unser Leben als Geheimnis akzeptieren und so in einem ursprünglichen Bewusstsein Klarheit für viele Fragen finden.
Krankheitserscheinungen am intakten
Menschen - Was für eine Nosologie brauchen wir?
(Original-Titel des englischen Vortrags: Classifying human clinical phenomena - The need for new taxonomies)
Prof. Alvan R. Feinstein
Clinical Epidemiology Unit, Yale University Medical School, New Haven/USA
Ich möchte heute Abend darüber sprechen, welche Gedanken sich
Ärzte über Krankheit und das Leiden gemacht haben. Ich beziehe
mich hauptsächlich auf die orthodoxe Medizin. Da ich die chinesische
Medizin zu wenig kenne um Ihnen zu sagen, wie dort die Krankheiten eingeteilt
werden und wie sich im Laufe der Jahrhunderte die Ansichten dort geändert
haben, möchte ich zumindest die orthodoxe Medizin beschreiben
Medizinisches Modell vor dem 19. Jahrhundert und die Fortschritte danach
Wenn wir in die Antike zurückgehen und uns den Zeitraum zwischen Antike bis zum 19. Jahrhundert ansehen, können wir sagen, dass dis-ease eigentlich ein körperliches Anzeichen für ein Unwohlsein war. Die klinische Manifestierung dieses Unwohlseins waren z.B. Angina, Gelbsucht oder Hinken. Auch das bezeichnete man als körperliches Unwohlsein. Die Ursachen für diese Leiden wurden in gestörten Körperflüssigkeiten gesehen oder anhand anderer ätiologischer Theorien, die damals im Kurs waren, diagnostiziert.
In diesem Kreis auf Abbildung 1 sehen Sie den Wirt. Die dis-ease hier und die Ursachen da. Der Wirt wurde aufgrund von demographischen Daten wie Alter, persönliche Eigenschaften und Umweltfaktoren charakterisiert. Das Leiden wurde mit klinischen Daten belegt wie Symptome und Anzeichen. Und hier draussen sehen Sie die Ursachen des Leidens, unterschiedliche Hypothesen und Annahmen. So sah das Modell vor dem 20. Jahrhundert aus. Was wir also heute als Krankheit bezeichnen, wurde damals als dis-ease, also Unwohlsein bezeichnet. Es gab früher also eine ganze Reihe von Hypothesen, die mit dem Wirt interagierten, um das Leiden zu provozieren.
Mit dem Fortschritt im 19. und 20. Jahrhundert entwickelte man dann, um Hinweise auf die Krankheitsursachen zu erhalten, die Autopsie, die Mikroskopie, die Chemie, die Mikrobiologie. Es wurden Laborexperimente entwickelt, um innere anatomische Abnormalitäten und andere kausale oder erklärende Mechanismen (Instrumente, Mittel, Methoden, Techniken) für das Leiden zu finden, das man ja bereits beschrieben hatte. Und all das wurde mit paraklinischen Daten belegt, die mit Instrumenten gewonnen wurden. Man untersuchte und beobachtete nicht den Patienten, sondern Organe, Substanzen, Flüssigkeiten, die dem Patienten entnommen und getrennt vom Patienten untersucht wurden. Die Nosologie, die klassische Einteilung der Krankheiten wurde so geändert, dass die frühere disease, das Unwohlsein des Bettes, zum Leiden wurde, das entweder in der Leichenhalle oder im Labor untersucht wurde. Die Angina pectoris wurde zur Koronaren Herzerkrankung, die Gelbsucht zur Hepatitis und das Schaufensterhinken zur peripheren Arteriosklerose umfunktioniert. Wir haben also einen vollständigen Wandel in der Klassifikation und Terminologie, die für die Leiden entwickelt wurden.
Als Ergebnis dieses Wandels war es jetzt nicht mehr den Wirt, sondern der Wirt, der zusammen mit dem Leiden eine Krankheit bildet (Abbildung 2). Der Wirt wird immer noch mit demographischen Daten - Umweltfaktoren und persönliche Eigenschaften - beschrieben. Aber das Leiden wird jetzt mit allen möglichen paraklinischen Daten, mit morphologischen Namen, verschiedenen Arten von Laborbeweisen, die es eben so gibt, belegt. Und die Patienten und ihre Krankheit werden jetzt mit Hilfe von klinischen Daten, Symptomen und Anzeichen beschrieben und befinden sich in diesem Sektor hier, zwischen Wirt und Leiden. Gleichzeitig, also während der Zeit, in der die westlichen Mediziner diese neuen Erkenntnisse erarbeiteten, wandelte sich auch der Schwerpunkt in der Wissenschaft. Es kam zu einer Schwerpunktverlagerung. Und zwar wurde die reduktionistische Erklärung zum einzigen Ziel der medizinischen Grundlagenwissenschaft erklärt. Die Erklärung, also die Ursache oder die Mechanismen der Erkrankung wurden zum Hauptgegenstand der medizinischen Wissenschaft. Und die Mediziner wurden so ausgebildet, dass sie nur an diese Dinge dachten. Die wissenschaftlichen Herausforderungen in der Intervention, die Prognose und die Therapie von Patienten wurden als eher unwichtig dargestellt und als eine Art klinische Kunst abgetan. Die Pathophysiologie von Organen und Systemen und die Schwerpunktverlagerung auf diese Dinge führte dazu, dass man noch reduktionistischer und schliesslich nur noch an Zellen und Moleküle dachte.
Welche Konsequenzen hatte das? Es gab keine gut konstruierten, grundlegenden
wissenschaftlichen Grundsätze, die man bei der Therapie des Patienten
anwenden konnte. Ein Jahrhundert lang hatte man den Ärzten beigebracht,
dass wenn sie klug und intelligent sein und wissenschaftlich arbeiten wollten,
sie im Labor die Krankheitsmechanismen untersuchen und die Ratten beim
Rennen in ihren Käfigen studieren müssen und sich um die Patienten
überhaupt nicht mehr zu kümmern brauchten. Als sich dann in diesem
Jahrhundert und ganz besonders im letzten Drittel dieses Jahrhunderts die
Technologie so rasch weiterentwickelte, gab es keine guten wissenschaftlichen
Methoden, um sie zu beurteilen. Was wir hatten, waren statistische Methoden,
wie zum Beispiel die randomisierten klinischen Versuche. Nachdem ich einmal
für ein Zentrum, in dem randomisierte Studien durchgeführt wurden,
verantwortlich war, kann ich Ihnen sagen, dass ich sehr wohl um deren Bedeutung
weiss, sofern sie adäquat angewandt werden können. Aber sie sind
leider nur begrenzt durchführbar und können nicht immer mit unverzerrten
statistischen Methoden durchgeführt werden. In vielen Fällen
können randomisiert kontrollierte klinische Studien überhaupt
nicht durchgeführt werden. Sie bieten uns unverzerrte statistische
Methoden an, um die Daten zu erfassen, leider aber keinerlei Grundsätze
für die klinische Wissenschaft. Randomisierte Versuche sind wunderbare
statistische Methoden, um die Unsicherheit statistisch auszuschlachten.
Aber es handelt sich dabei nicht um eine Reihe wissenschaftlicher Prinzipien,
mit denen man die neuen Technologien, die es im kommenden Jahrhundert noch
vermehrt geben wird und die sich rasch weiterentwickeln werden, bewerten
kann.
Grundlegende Elemente von Wissenschaft
Wenn wir uns die Grundlagen der Wissenschaft, sei es in der Physik,
der Biologie oder in den klinischen Wissenschaften ansehen, gibt es zwei
Voraussetzungen: Ausreichende, d.h. genaue, akkurate und verlässliche
Daten und wiederholbare Beobachtungen und angemessene Taxonomien und Klassifizierungssysteme
für stichhaltige Daten. Das sind die Grundlagen jeglichen wissenschaftlichen
Arbeitens. Ob Sie nun an Experimente oder andere Untersuchungen denken.
Die Grundlagen sind immer noch angemessene Daten und angemessene Klassifizierungssysteme.
Gängige Klassifizierungssysteme
Welche Klassifizierungssysteme stehen uns heute zur Verfügung?
Wenn wir uns die drei Begriffe, das Leiden, der Wirt und die Krankheit,
nochmals ansehen, kann ich sagen, dass es für die Morphologie, die
chemischen Mikroben betreffenden physiologischen mikrobialen und molekularen
Einheiten sehr gut entwickelte Klassifizierungssysteme gibt. Sie können
sich die Nomenklatur in jedem medizinischen Nachschlagwerk ansehen, und
Sie werden feststellen, dass die Klassifizierung hervorragend ist. Die
Wirte werden hauptsächlich nach demographischen Kriterien klassifziert
wie Alter, Geschlecht, Bildung, Einkommen, Beruf, Wohnort und noch viele
andere Merkmale, mit denen die Menschen beschrieben werden. Wenn Sie dann
aber über die Krankheit eines Patienten als getrennte Einheit sprechen,
muss man sich fragen, welches Klassifizierungssystem es dafür gibt.
Die Ärzte unter Ihnen kann ich ja fragen: Welches Klassifizierungssystem
für Krankheiten haben Sie denn gelernt? Die Antwort wird wahrscheinlich
heissen, überhaupt keines. Wir haben heute ein Diagnosesystem, das
Manifestationen einer Krankheit in Leidenskategorien umwandelt, welche
aber zu einer weiteren Klassifizierung kranker Leute nicht brauchbar sind.
Klassifizierung kranker Menschen
Wenn Sie sich dann aber überlegen, ob es eine Art Indexkrankheit gibt - und Sie werden während dieses Symposiums vielleicht v.a. an Brustkrebs und Zervixkarzinom denken -, werden Sie sehen, dass es innerhalb jener Gruppe von Leuten, die anscheinend dieselbe Krankheit haben, doch eine unheimliche Diversifizierung gibt, viele verschiedene klinische Symptome, die sich manifestieren, je nachdem, wie die Krankheit aufgedeckt wurde. Vielleicht wurde sie aufgrund von Symptomen entdeckt oder aufgrund von Früherkennungsprogrammen, vielleicht anhand anderer Methoden. Oder die Reihenfolge der Symptome: Welches kam zuerst, welches kam danach und welches kam als letztes? Der Schweregrad der Symptome und der Krankheit: Da gibt es Schmerz, und da gibt es nochmals Schmerz, und dann gibts nochmals Schmerz. Es gibt Atemnot, und dann gibt es eine grosse Atemnot. Das Fortschreiten einer Krankheit: Schreitet die Krankheit rasch voran oder langsam? Der Schweregrad der Begleiterscheinungen, der Komorbidität: Jene, die in modernen medizinischen Institutionen arbeiten wissen, dass es fast unmöglich ist, dass wenn ein Patient ins Krankenhaus kommt und wenn er erst mal im Krankenhaus ist, man nur eine Krankheit findet. Anhand der modernen diagnostischen Methoden wird man viele Krankheiten aufdecken. Und wie kann man denn nun eine Frau klassifizieren, die Brustkrebs hat und dann auch noch leberkrank ist und noch verschiedene andere Krankheiten hat? Aber man kategorisiert sie als Patientin mit Brustkrebs. Die anderen Manifestationen werden übergangen.
Das Fortschreiten oder der Verlauf einer Krankheit: Ich möchte hier als Beispiel zwei Frauen mit Brustkrebs beschreiben. Sie sind gleich alt, 54 Jahre alt, beide Gravida 3 und Para 3, und sie haben beide drei Kinder. Die Geschichte ihrer Wechseljahre ist identisch. Sie haben beide Stadium I-Krebs, und es ist ein adenoides Karzinom. Anhand der gängigen Klassifikationen der Medizin und anhand der traditionellen Klassifikationen des Brustkrebses sind diese beide Frauen identisch. Sie fallen in dieselbe Kategorie und werden mit denselben statistischen Methoden und Therapien behandelt. Die erste Frau hat bereits im Alter von 21 Jahren während einer Routineuntersuchung einen Knoten in der Brust aufdecken können. Der Arzt wusste es, hat aber nichts unternommen. Sie begab sich jährlich zu einer Kontrolluntersuchung, der Knoten entwickelte sich aber nicht weiter. Erst vor kurzem, als sie herausfand, dass Frauen über 50 ein Mammogramm haben sollten, liess sie sich dieses Mammogramm machen und man entdeckte dann, dass der Knoten nicht gutartig war und man klassifizierte ihn als Stadium I-Karzinom. Die zweite Frau, die dieselbe Morphologie und dieselben demographischen Merkmale aufwies, wurde ebenfalls, seit sie 21 Jahre alt war, regelmässig untersucht. Man hat aber nichts entdeckt. In den letzten 5 Jahren hat sie, um die jährlichen Untersuchungen des Gynäkologen noch zu unterstützen, ihre Brust selbst untersucht. Man hat nichts gefunden. Als sie sich vor einem Monat in der Dusche selbst untersucht hat, entdeckte sie einen Knoten. Der Arzt bestätigte ihr das und dass der Knoten neu war. Nach Biopsie und Entfernung des Knotens wurde sie ebenfalls mit Stadium I diagnostiziert. Nun, welche Frau meinen Sie, hat einen Krebs, der rasch fortschreitet? Und welche Frau hat einen langsam wachsenden Krebs? Die erste Frau hat einen Krebs, der langsam fortschreitet. Einige Studien von Dr. Mary Charlson und mir haben schon vor 15 Jahren ergeben, dass Frauen mit dieser Art von langsam fortschreitendem Krebs, wenn also ein Knoten lange Zeit unverändert blieb, zu hundert Prozent 10 Jahre überlebten, egal was man tat: Mastektomie, Lymphektomie, Chemotherapie plus Bestrahlung usw. Alle würden mehr als 10 Jahre überleben. Diese Frauen gehören wahrscheinlich zu der Gruppe, von der Johannes Schmidt sprach - bei denen man während einer Autopsie im Alter von 90 Jahren, nachdem sie von ihrem Liebhaber erschossen worden sind, entdeckt, dass sie einen Knoten in der Brust haben, und die sich glücklich schätzen konnten, dass ein Arzt diesen Knoten niemals entdeckt hat. Hätte man aber diesen Knoten zu Lebzeiten entdeckt, egal was man unternommen hätte - chinesische Medizin, Hühnersuppenmedizin, ein Aspirin pro Tag -, wäre jede Art von Behandlung hochgejubelt worden als die Heilungsmethode. Manche Karzinome wachsen eben schnell und manche wachsen langsam. Wenn ich diese Anekdote jeweils erzähle, sagt man mir meistens, dass die Onkologen Sexisten sind und sich die Geschichte der Frau nicht anhören wollen. Aber das stimmt nicht. Nein, sie hören sich die Krankheitsgeschichte ihrer Patienten überhaupt nicht an! Ob das nun Männer oder Frauen sind. Alle klinischen und andere Daten warten ja nur darauf, klassifiziert zu werden. Manche von uns haben ja bereits schon gezeigt, wie man das machen könnte. Aber das medizinische Establishment will das einfach nicht hören.
Hier nun einige Daten zur Überlebensrate je nach TNM-Stadium und Symptomatik von Patienten mit Lungenkrebs. Ich habe für Brustkrebs leider keine ausführlichen Daten, weil Brustkrebs keine sehr symptomatische Krankheit ist. Von insgesamt 1266 Patienten mit Lungenkrebs, die von meinen Kollegen und mir selbst untersucht wurden im New Heaven Veterans Hospital betrug bei 551 oder 44% die Überlebensrate 6 Monate. Für jene, die gerne von 5-Jahres-Überlebensraten sprechen, habe ich die Ergebnisse in der letzten Spalte eingetragen. Aber wir konzentrieren uns jetzt mal auf die 6 Monate: 44% überlebten also 6 Monate. Wenn Sie jetzt das traditionelle TNM-Stadien-System nehmen, unterscheiden sich die Überlebensraten: 75% mit Stadium I, 57% bei jenen, die Stadium II- Karzinom hatten und 30% bei jenen mit Stadium III. Das sind die Daten, wie sie in allen TNM-Studien angegeben werden. Hier also die Ergebnisse, wenn wir sie nach der Symptomatik einteilen: Das sind die Patienten, die keinerlei Symptome aufwiesen, hier die Patienten, die pulmonische Symptome aufwiesen, Veränderungen beim Husten, Lungenentzündungen usw., alles Lungensymptome. Systemische Symptome sind z.B. Gewichtsverlust, signifikanter Gewichtsverlust. Und metastatische Symptome sind nicht nur im Röntgenbild zu erkennen, sondern verursachen Schmerzen in den Knochen, Hemipareseentwicklung aufgrund von Metastasen im Gehirn. Von diesen Patienten mit Symptomen, im Vergleich zu den Patienten, die keinerlei Symptome aufwiesen, haben 77% 6 Monate überlebt. In dieser Gruppe 58%, in dieser Gruppe 42%, in dieser Gruppe 26%. Das gilt also für jedes TNM-Stadium. Ich könnte Ihnen weitere statistische Daten zeigen, aber ich will Sie jetzt nicht mit Statistik belasten, weil manche von Ihnen wahrscheinlich allergisch sind auf Statistik. Aber diese Art von Verteilung sehen Sie also in jedem Stadium.
Ein Chirurge mag nun sagen: Mit meiner neuen Technik kann ich das und das und das bewirken, und die Überlebensrate wird im Stadium I 80% betragen. Nur welche Art von Stadium I behandelt er? Diese, diese oder diese oder diese? Dasselbe gilt für die Chemotherapeuten und die Radiologen, wenn sie ihre Daten zeigen. Über welches Stadium III reden sie denn? Dieses, dieses oder dieses oder das vierte? Ich fürchte, dass die Leute völlig in den statistischen Durchschnitten verloren sind und niemand weiss mehr, wovon er spricht. Und wenn man diese Sachen nicht richtig versteht, dann wird man nie verstehen, was eine Therapie leisten kann. Ob es nun eine traditionelle Therapie ist oder ob es sich um einen anderen Ansatz handelt.
Es gibt aber noch andere Dinge, nämlich der Schweregrad eines Symptoms. Hier haben Sie den Schweregrad eines Symptoms und die Überlebensrate nach 6 Monaten, insgesamt 1266 Patienten: 551 oder 44% haben 6 Monate überlebt. Wenn wir jetzt aber von unten nach oben lesen, können wir sehen, dass in jener Gruppe mit schwerwiegenden Tumorauswirkungen - also nicht Hemoplegie aufgrund von zerebralen Metastasen, sondern Koma, nicht nur Schmerzen aufgrund einer einzigen Knochenmetastase, sondern Knochenmetastasen in vielen Knochen, an vielen Stellen, also schwerwiegende Tumoreffekte - die Überlebensrate nur 5% beträgt. Hier Patienten mit enormem Gewichtsverlust, Kachexie, ein Gewichtsverlust von mehr als 10kg oder mehr als 10% ihres Ausgangsgewichtes. Dort betrug die Überlebensrate 21%. Und von jenen Patienten, die grossen Gewichtsverlust aufwiesen, bis zu 5% ihres Körpergewichts verloren hatten oder schwerwiegende Dyspnoe aufwiesen, überlebten 36%. Bei jenen, die systemische Symptome aufwiesen, Anorexie oder bei denen die Dyspnoe gerade begonnen hatte, betrug die Überlebensrate 50% und bei denjenigen, die keine derartigen Symptome aufwiesen, betrug die Überlebensrate 60%. Sie sehen also, der Durchschnitt liegt bei insgesamt 44%, aber der Streuwert geht von 5% bis 60%.
Ich spreche jetzt hier nicht vom Humanismus, sondern ich spreche von der Wissenschaft. Die Wissenschaft, die uns verblendet. Eine Wissenschaft, mit der wir auch die Patienten täuschen, wenn wir ihnen sagen, dass die durchschnittliche Überlebensrate 44% beträgt. Was wir den Patienten aber vorenthalten ist, dass wenn sie keine oder keine schwerwiegenden Symptome haben und im Stadium I sind, ihre Überlebensrate für 6 Monate sogar 60% betragen kann. All diese klinischen Unterscheidungen von Patienten, die sowohl aus humanistischer als auch aus wissenschafticher Sicht wichtig sind, werden absichtlich verzerrt. Das Establishment weist diese Daten zurück, weil es sich nicht um harte Daten (aus apparativer Messung) handelt. Es zählt nicht, was der Patient von seiner Krankheit erzählt.
Nun gibt es weitere wichtige Merkmale für Krankheiten: z.B. Probleme in der Akzeptanz der Behandlung, Probleme bei der Dosiseinstellung. Das liefert oft wichtige Hinweise darauf, was los ist. Hier z.B. Schwierigkeiten von Diabetikern, sich ausreichend mit Insulin zu versorgen, ohne jedesmal einen Hypoglykämie-Schock zu erleiden. Reaktionen auf frühere Behandlungen. Wir behandeln Patienten, als würden sie als pharmazeutische Jungfrauen zu uns kommen, ohne auch nur jemals nachzufragen, was bei früheren Behandlungen eigentlich verabreicht wurde. Die Auswirkungen und die Klassifizierung der Polymorbidität: Was ist, wenn es uns nicht gelingt, eine einzige Krankheit herauszukristallisieren, ein Patient eben verschiedene Krankheiten aufweist? Wie werden wir mit dem Phänomen fertig? Wie klassifizieren wir die Patienten? Nehmen wir uns jede Indexkrankheit einzeln vor oder entwickeln wir eine neue Taxonomie, die es uns ermöglicht, mit diesen multiplen Krankheiten fertig zu werden?
Wir kümmern uns auch überhaupt nicht um die allgemeinen Auswirkungen
der Krankheit auf den Patienten, seine Arbeitsunfähigkeit zum Beispiel.
Da will man den Patienten ja doch helfen! Psychologische Not und die Auswirkungen
auf die Leistungsfähigkeit: Sie haben zwei Krebspatienten. Beide sind
im selben Krebsstadium, weisen dieselben klinischen Merkmale auf. Einer
arbeitet, und der andere nicht. In einem Fall arbeitet der Patient nicht,
weil die Krankheit ihn pathophysiologisch so hernimmt, in einem anderen
Fall ist der Patient sehr deprimiert und arbeitet deshalb nicht. Und wir
klassifizieren einfach als «arbeitend» oder «nicht arbeitend»
und fragen überhaupt nicht danach, warum sie arbeiten oder nicht arbeiten.
Die zwischenmenschlichen und familiären Beziehungen: Jene von Ihnen,
die Homöopathie betreiben oder chinesische Medizin anwenden, wissen
wie wichtig diese Beziehungsgefüge sind und beachten sie auch. Sie
klassifizieren sie vielleicht nicht
besonders gut, aber sie beachten und berücksichtigen sie. Es gibt
auch einige orthodoxe Ärzte, die darauf Rücksicht nehmen. Aber
wir haben leider überhaupt kein Klassifizierungssystem dafür,
wie gute oder schlechte zwischenmenschliche Beziehungen den Krankheitsverlauf
beeinflussen. Der Berufsstatus und der Finanzstatus kann auch von einer
Krankheit beeinflusst werden. Und dann gibt es noch so etwas wie die Lebensqualität,
die ausserordentlich wichtig ist. Ich werde darauf noch zurückkommen.
Klassifizierung von «Placebo»
Jene, die als Heiler tätig sind, wissen natürlich um den Placebo-Effekt. Die Patienten fühlen sich besser, und wir haben gar nichts dazu getan. Aber der Placebo-Effekt nährt sich aus verschiedenen Quellen. Entweder aufgrund des natürlichen Verlaufs der Krankheit. Eine Viralinfektion, wie zum Beispiel eine Erkältung: Wenn Sie eine normale Erkältung behandeln, wissen Sie, dass die Krankheit, wenn Sie nichts tun, ebenso in sieben Tagen zu Ende sein wird. Und wenn Sie rigoros eingreifen, wird sie in einer Woche zu Ende sein. Unsere Berufsvorgänger, die früher den Aderlass und die Egel anlegten, haben Viralinfektionen behandelt, die ja sowieso vorbeigegangen wären. Und manchmal ging die Krankheit auch zu Ende, obwohl der Arzt eingegriffen hatte. Der Patient kann auch erleichtert sein, weil der Arzt eingegriffen hat, nur weil er eben beim Arzt war. Egal, was der Arzt tat und wer der Heiler war. Dann gibt es noch den positiven geistigen Beitrag, den der Arzt leisten kann. Er klärt und er beruhigt. Es gibt Reaktionen auf therapeutische Interventionen, die inaktiv oder unwirksam sind. Die Mediziner unter Ihnen haben sicher die Erfahrung gemacht, dass z.B. ein Apotheker anrief, weil er dem Patienten die falsche Medizin ausgehändigt hatte, etwas das völlig unwirksam für diese Krankheit war. Und trotzdem ging es dem Patienten besser. Der Gesundheits- oder Krankheitszustand eines Patienten hat sich oft auch rasch verändert, wenn man einem Patienten im Krankenhaus die richtige Therapie verschrieben hat. Wir haben z.B. eine Schmerztablette verschrieben, und dem Patienten ging es dann besser, obwohl die Krankenschwester sagte, dass der Patient dieses Medikament überhaupt noch nicht eingenommen hatte, weil die Apotheke es nicht zur Verfügung hatte.
Es kann auch zu Veränderungen und Verbesserungen im funktionalen und psychischen Status kommen, obwohl das Leiden unverändert ist. Aber auch wenn die Krankheit unverändert ist, geht es dem Patienten besser, weil der Arzt mit ihm arbeitet. Egal, was hier als Krankheit gemessen wird. Und all diese Faktoren werden gegenwärtig ungenügend bewertet. Wir bestehen ja in unseren klinischen Versuchen oft nur darauf, dass ein Placebo verabreicht wird, aber wir vergessen völlig, warum denn ein Placebo verabreicht wird. Wir vergessen, dass der Arzt jemand ist, der Patienten hilft. Die Iatro-Therapie, die Wirkung des Arztes als therapeutisches Agens. Die wichtigste therapeutische Waffe, die wir zur Verfügung haben - ob nun in der chinesischen Medizin oder als Anhänger der Freud'schen Theorie -, das sind wir. In der heutigen Taxonomie aber wird nur die Heilung bewertet, nicht aber die Erleichterung und das Wohlbefinden des Patienten. Sie erinnern sich vielleicht an das alte französische Sprichwort: «Guérir quelque fois - soulager souvent - consoler toujours» (Manchmal heilen, oft erleichtern, aber immer jemanden trösten). Das sollte auch heute noch gelten. Aber in der modernen Medizin sind wir nur auf die Heilung aus. Nicht aber auf Erleichterung, das Wohlbefinden des Patienten. Der Arzt kann geistige und psychische Hilfe vermitteln und auch verschiedene Interventionen durchführen, die die Symptome erleichtern, die Funktion verbessern und das Wohlbefinden fördern. Vergessen Sie nie, was der Arzt als Heiler leisten kann. Die Beziehung zwischen Arzt und Patient wurde bisher nur ungenügend untersucht und wird auch an den Universitäten überhaupt nicht gelehrt. Wir sagen, es ist Teil der medizinischen Kunst. Aber wie sollen die Studenten diese Kunst lernen, wenn wir diese Beziehungsgefüge nicht analysieren, die Komponenten isolieren und sie dann entsprechend unterrichten können?
Andere Quellen der Hilfe in Not, das wissen Sie alle, sind die Familie,
die Freunde, die gesellschaftlichen Stützsysteme, die Religion, Spiritualität.
All dies ist für den Menschen sehr, sehr wichtig. Denn nur dadurch
können die Menschen ja damit fertig werden, was ihrem Körper
angetan wurde. Aber auch darauf legen wir überhaupt keinen Wert.
Statistische Rituale als Wissenschaftsersatz
Und dann haben wir eine neue Krankheit, das Produkt der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, nämlich der statistische Reduktionismus, die quantitative Begleiterscheinung des biologischen Reduktionismus. Komplexe klinische und menschliche Phänomene werden in Elementarbestandteile, die gewichtet und zusammengezählt werden, zerlegt. Einige von Ihnen kennen sicher die multivariablen statistischen Methoden, die multiple lineare Regression zum Beispiel, die funktionale Analyse, andere Regressionsanalysen, die jetzt mindestens einmal in der Woche im Lancet, im New England Journal of Medicine und in anderen medizinischen Fachzeitschriften erscheinen. Man spricht nicht mehr von kongestiver Herzinsuffizienz, was ja noch als erkennbare Grösse gilt, sondern von «B1: Dyspnoe plus B2: Ödem plus B3: erweiterte Halsvenen». Das ist jetzt kongestive Herzinsuffizienz.
Die Lebensqualität entspricht der Anzahl der Punkte, die man in einem Fragebogen mit 100 Fragen erreicht hat. So messen wir die Lebensqualität. Die Auswahl der Komponenten und die Gewichtung derselben wird von Experten vorgenommen und von statistischen Modellen diktiert. Den Patienten aber fragt man überhaupt nicht mehr. Vor einigen Jahren hat James Wright Lee bei Patienten mit Hüftfrakturen eine Studie durchgeführt. Er war orthopädischer Chirurge in Toronto und hat zwei Jahre bei mir gearbeitet. Er wollte untersuchen, wie wirksam der Hüftersatz bei Patienten mit Hüftfrakturen war oder die aus anderen Gründen ihre Hüften ersetzen liessen. Er war gerade im Begriff, die konventionellen Skalen für Hüftfrakturen anzuwenden, als ich ihm sagte: «Warum fragen Sie denn nicht einfach die Patienten, warum sie einen Hüftersatz haben wollen?» «Ja, kann ich denn das machen?» fragte er mich. Und ich sagte ihm, «ja warum denn nicht?» Und so habe ich einem Orthopäden beigebracht, wie die Sache um den Sex steht. Manche Patienten wollten einfach eine neue Hüfte haben, weil die Hüfte weh tat und weil sie sich schlecht bewegen konnten. Aber es gab andere Patienten die sagten, dass sie aus Gründen des Sex eine neue Hüfte haben wollten. Sie konnten beim Geschlechtsverkehr verschiedene Positionen wegen ihrer Hüfte einfach nicht mehr einnehmen. Egal ob sie nun 50 Jahre oder älter waren.
Wenn Sie also wirklich wissen wollen, warum die Patienten nach etwas fragen, dann müssen Sie die Patienten fragen! Und trotzdem bestehen wir darauf, diese Fragebögen anzuwenden, die von verschiedenen psychometrischen Wissenschaftlern, die meinen, dass das Ganze die Summe der Teile ist, entwickelt wurden. Nein, so ist es aber nicht. Das Ganze, das so komplex wie ein menschliches Lebewesen ist, kann nicht einfach in die einzelnen Bestandteile zerlegt werden. Ich habe oft an Virginia Apgar und an den Apgar Score gedacht: Eine Grösse, die von 0 bis 10 reichen kann, mit der man an Neugeborenen verschiedene Tests durchführte. Virginia Apgar war eine Frau und hat 1947 die Apgar-Grösse entwickelt. Sie war Anästhesiologin und hat den Zustand von Neugeborenen als «ausgezeichnet», «gut», «mittelmässig» oder «schlecht» bewertet. Eines Tages wollte sie dann wissen, was in diese Grössen wirklich eingeht. Sie hat aufgrund ihrer klinischen Erfahrung 5 Variablen entwickelt: Der Puls, die Grösse, Reflexe usw. und hat jedem einen Wert von 0 bis 2 zugewiesen. Diese Werte hat sie dann zusammengezählt und kam zur Grösse 10. Und dieser Apgar-Test wird jetzt auf der ganzen Welt angewendet und wurde sehr berühmt. Sie ist sogar auf einer Briefmarke der Vereinigten Staaten abgebildet.
Ich habe Virginia Apgar oft bewundert. Sie hatte nämlich keine Berater und hat nur ihren klinischen Menschenverstand gebraucht. Hätte sie nämlich Berater gehabt, würde es heute den Apgar-Score nicht geben, sondern dann gäbe es heute ein Instrument. Wahrscheinlich 100 Fragen, die man beantworten müsste. Fragen wie: «Ich glaube, dass Neugeborene süss aussehen», ja, ich bin dieser Meinung, nein, ich bin nicht dieser Meinung. «Wenn ein Neugeborenes blau wird, werde ich nervös», ja, dem stimme ich zu, nein, dem stimme ich überhaupt nicht zu. Es gäbe sicher eine ganze Reihe von statistischen Zusätzen, und man würde diesen Fragebogen wahrscheinlich als ein statistisches Wunder bezeichnen, und er wäre überhaupt nichts wert und würde nie verwendet werden. Und trotz der Tatsache, dass diese Apgar-Grösse so gut ist, hätten unsere Psychometriker, diese ganze psychometrische Mafia doch noch den Wunsch verspürt, einen Fragebogen zu entwickeln. Es muss also neue Methoden und Skalen geben, damit Patienten ausdrücken können, was sie denken, was sie fühlen und was sie wollen.
Was ist denn diese Lebensqualität? Das ist doch ein ganz persönliches
Gefühl. Sie sind selbst der einzige oder die einzige, der seine Lebensqualität
wirklich bewerten kann. Ihr Gesundheitsstatus spielt dabei vielleicht eine
Rolle. Aber da gibt es noch viele andere Kriterien und Aspekte und vieles,
was mit Ihrer Gesundheit überhaupt nichts zu tun hat. Und trotzdem
gibt es in Amerika, in England und zunehmend auch in Europa eine ganze
Reihe von Wissenschaftlern, die solche Einteilungen für die Lebensqualität
entwickeln. Den Patienten aber fragen sie nie nach seiner Meinung, obwohl
der Patient wohl der einzige ist, der dies glaubwürdig beantworten
und bewerten kann. Als ich vor zwei Jahren in Australien war, sagte mir
während einer Tagung eine stark verkrüppelte Frau, eine pensionierte
Krankenschwester mit völlig deformierten Handgelenken, die auf ihren
Stöcken dahinhumpelte: «Die Leute sind Idioten! Die würden
mich mit einer sehr schlechten Lebensqualität einstufen, nur weil
sie sehen, dass ich körperliche Handicaps habe. Aber ich muss sagen,
dass ich eine wunderbare Lebensqualität habe. Mein Mann und ich lieben
uns. Wir können es uns leisten, Haushalthilfen zu bezahlen. Trotz
meiner Behinderung lieben wir uns, sowohl körperlich als auch in anderen
Bereichen. Und ich muss sagen, meine Lebensqualität ist ausgezeichnet.
Egal, was diese Idioten mir sagen.»
Manchmal gewinnt doch der Menschenverstand. Aber leider nicht immer.
Herausforderungen und Lösungen
Nun, welche Lösungen gibt es für die Probleme, die ich aufgeführt
habe? Wir müssen den Patienten wieder ins Zentrum des klinischen Universums
rücken. Es sind nicht die Krankheiten, es ist nicht die Morphologie
und es ist auch nicht Qi, sondern es ist der Patient. Wir müssen eine
zusätzliche Grundlagenwissenschaft für die Herausforderungen
und Interventionen im Rahmen der Patientenbetreuung entwickeln. Wir sollten
also nicht unsere Methoden anwenden, nicht unsere Vorstellungen von den
Ursachen. Es geht nicht darum, warum wir glauben, dass die Dinge so schlecht
geworden sind, wie sie sind, sondern darum, was wir wirklich tun und was
wir erreichen. Und dazu brauchen wir nicht nur technologische Daten, sondern
auch die Beobachtungen, Hinweise und Aussagen seitens der Patienten selber
und seitens aufgeklärter Kliniker, wenn solche vorhanden sind. Und
wir brauchen - und das müssen wir erst neu entwickeln - befriedigende
neue Systeme zur Einteilung der relevanten klinischen und menschlichen
Informationen. Das sind für junge Menschen heutzutage und sogar für
die älteren, die Grundlagenwissenschaft auf der Ebene der Klinik betreiben
wollen, wunderbare Herausforderungen. Sehen Sie sich diese Herausforderungen
an! Sehen Sie sich an, was in den Patienten vor sich geht und überlegen
Sie, wie man das einteilen und beurteilen kann, damit man sie richtig analysieren
und
dann eine entsprechende Therapie entwickeln kann.
Diskussion
Johannes Schmidt:
Wir sprachen heute morgen über das neue Modewort Evidence Based
Medicine, die oft mit dem randomisierten klinischen Test gleichgesetzt
wird. Man sagt, es sei dasselbe. Du hast gesagt, dass die RCTs oft nicht
die Antwort bringen können, die wir brauchen, um dem Patienten wirklich
zu helfen. Und deshalb ist es wichtig, diese Frage hier zu klären.
Meine Auffassung ist, dass wenn wir es mit Leidenserleichterung zu tun
haben - ein leidender Patient kommt also zu uns und will Hilfe -, der Nachweis
der Verbesserung seines Zustandes oder seiner Lebensqualität oder
die Erleichterung seines Leidens, dessen was mit ihm geschieht, nur der
Patient erbringen kann. Er wird uns dies am besten sagen können. Das
RCT wird dazu nicht in der Lage sein. Das mag helfen, den allgemeinen Stellenwert
einer Therapie zu klären. Aber der Beweis, der Nachweis wird erbracht
von dem Patienten selbst, das Resultat in der Praxis.
Im Vergleich dazu praktizieren haben wir auch einen grossen Teil präventiver
Therapien. Hyperglykämie zum Beispiel wird nicht behandelt, weil sich
dadurch der Patient besser fühlt, sondern weil wir der Auffassung
sind, dass dies für den Verlauf notwendig ist. Und hier würde
ich sagen, dass es es keine andere Möglichkeit als die der randomisierten
Studien gibt, um festzustellen, ob der Patient sich besser fühlt oder
ob es ihm besser geht. Stimmst Du dem zu?
Alvan Feinstein:
Nicht hundertprozentig - wenn wir mit der sehr leistungsstarken Technologie
arbeiten, mit der wir heilen aber auch, genau so leicht töten können.
Vor Jahren, als unsere Vorfahren den Aderlass praktizierten, hat es vielleicht
Monate gedauert, ehe sie einen Patienten umgebracht haben, heute kann man
einen Patienten mit irgend einer technischen Anlage sofort umbringen. Angesichts
dieser Leistungsstärke der Technologie, mit der wir umgehen, mit der
wir also ebenso viel Schaden anrichten können wie auch Gutes, ist
es glaube ich angebracht, nach dem Nachweis einer Besserung zu suchen.
Und jeder, der eine Therapie anwendet, ob das nun Allopathie oder eine
andere Art Medizin ist, sollte den Nachweis erbringen, den Nachweis suchen,
ob das, was er getan hat, auch einen Zweck hatte. Diese Bewegung, die Evidence
Based Medicine ist, glaube ich, nicht richtig benannt. Es sollte Literature
Based Medicine genannt werden. Denn der Nachweis in dieser besagten Medizin
hängt von der veröffentlichten Literatur, von randomisierten
Versuchen ab. Aber die Meinung des Patienten ist darin nicht enthalten.
Ich brauche also einen Nachweis, der auf den Aussagen des Patienten selbst
basiert. Nicht ein zusammengestückelter oder fabrizierter Nachweis,
den wir aus der Literatur Tests ableiten.
Johannes Schmidt:
Der RCT wurde, wenn ich mich recht erinnere nach dem Contergan-Skandal
eingeführt und wurde ursprünglich hauptsächlich angewandt
um zu testen, ob eine Therapie sicher ist und nicht, ob sie effektiv, also
wirkungsvoll ist. Wir müssen also trotzdem den Patienten selbst fragen,
ob er eine Besserung fühlt. Aber wir brauchen die RCTs um sicherzustellen,
dass die verwendete Medizin oder Methode auch sicher ist.
Alvan Feinstein:
Dazu möchte ich sagen: Die RCTs wurden eingeführt um festzustellen,
ob ein gewisses Medikament es wert ist, in grossen Mengen hergestellt zu
werden. Nach dem Contergan-Schock wurden die RCTs allgemein bekannt und
populärer, denn dieser Test wurde dann für therapeutische Produkte
verlangt, um ihre Sicherheit zu testen. Aber das war eigentlich dumm. Denn
wir könnten auch heute noch einen Contergan-Skandal haben, obwohl
wir randomisierte Studien haben. Randomisierte Versuche sind nicht angebracht
um langfristige, nicht einmal um kurzfristige Sicherheit nachzuweisen.
Sie werden angewendet, um die Wirksamkeit eines Medikamentes zu testen,
aber nicht um die langfristige oder kurzfristige Sicherheit eines Medikamentes
sicherzustellen. Der Test wurde also populär und weit verbreitet aufgrund
des Contergan-Skandals, aber er nützt nicht viel, um die Sicherheit
eines Medikamentes nachzuweisen. Die Wirksamkeit kann sehr gut getestet
werden. Man hat feststellen können, dass ein gewisses Medikament z.B.
bessere Wirkungen hat als ein Placebo. Und das ist das einzige, was wir
eigentlich wirklich sicher sagen können.
Johannes Schmidt:
Jane Hall, wenn Du diese Kritik an der evidenzorientierten Medizin
hörst. Ist Dir das recht oder was sagst Du dazu?
Jane Hall:
Vielleicht kann ich dazu folgendes sagen: Mir ist die Evidence Based
Medicine auch nicht ganz geheuer. Ich glaube, dass ich hier eher Alvan
Feinstein zustimme und etwas weniger Johannes Schmidt. Meine erste Erfahrung
diesbezüglich bei einer Konsensus-Konferenz war die Behandlung von
erhöhtem Blutdruck. Da wurde gesagt: «Wir berücksichtigen
nur Evidence Based Medicine und wir verlassen uns nur auf die randomisierten
Tests.» Das bedeutete, dass wir die folgenden zwei Tage über
den hohen Blutdruck und die Verwendung von Medikamenten zur Bekämpfung
des hohen Blutdrucks sprachen. Und jeder Redner hat statistisches Material
gebracht und Dias gezeigt mit einer Analyse übergewichtiger Menschen.
Aber dazu waren all diese wissenschaftlichen Abhandlungen gar nicht nötig.
Es ist eigentlich offensichtlich, wenn man übergewichtige Personen
ansieht und sehr wahrscheinlich, dass sie unter erhöhtem Blutdruck
leiden. Ein weiteres Beispiel, das ich nennen möchte, ist meine Arbeit
mit dem Nationalen Komitee für die Ausarbeitung von Richtlinien zur
Behandlung von Brustkrebs. Wir haben uns lange über das Ausmass der
Behandlung von Brustkrebs unterhalten und haben dann auch über Evidence
Based Medicine gesprochen. Und es hiess da: «In der Behandlung von
Frühstadien von Brustkrebs werden die Tests gemacht. Frauen, die nicht
behandelt wurden oder für die es zu spät ist usw. werden davon
ausgeschlossen.» Und es blieb nur eine kleine Gruppe von Frauen übrig,
die in Frage kamen. Brustkrebs ist nun die Krankheit, die Sie kennen, die
Röntgonologen und Onkologen sind sich da nicht immer einig. Die Frauen,
die bei dieser Konferenz anwesend waren, kamen überhaupt nicht mehr
zu Wort. Es ging also um ernsthafte Probleme, und diese wurden von Männern
behandelt. Sie sprachen also alle über Brustkrebs. Aber was eigentlich
die Frauen interessiert, z.B. Unterstützung durch mehr Information,
würdevolle Behandlung, Zeit und Unterstützung, um Entscheidungen
zu treffen, darüber wurde nicht gesprochen. Diese Unterstützung
kann von Familienmitgliedern, von Freunden oder auch von einem ärztlichen
Berater geleistet werden. Ist nicht das der Nachweis? Es ist auch ein Nachweis,
ein Beweis aber nicht eine randomisierte Methode, eine Kontrollmethode.
Wir haben dann darüber gesprochen, ob solche evidenzorientierte Elemente
nebst den Richtlinien nicht auch miteinbezogen werden könnten. Ich
glaube, dass Evidence Based Medicine durchaus auf Literatur, auf Publikationen
basiert. Aber was veröffentlicht wird, hängt davon ab, was gewinnbringend
ist. Und das Geld kommt von der Pharmaindustrie, die Medizin verkaufen
will, und zwar in grosser Menge an viele Leute. Oder es sind Dinge, die
z.B. neugierige Wissenschaftler interessieren. Ich streite in dieser Sache
ständig mit Forschern. Die Evidenz also, die Beweise, die wir verwenden
können, sind von einem sehr beschränkten Fundus an Wissen und
an Veröffentlichungen abgeleitet worden.
Alvan Feinstein:
Die Schlussfolgerung ist also, dass wir vorsichtig sein müssen
mit der Verwendung dieses Begriffes. Wir sollten vielleicht versuchen,
sogar die Definition der Evidence Based Medicine irgendwie abzuändern.
Meine Idee war immer, die Definition sei, dass der Nachweis erbracht wird,
dass die Medizin wirksam gewesen ist. Vielleicht könnte man zu diesem
Thema einen Leitartikel im Journal for Clinical Epidemiology schreiben,
was auch schon geplant ist. Jeder Bereich der Medizin ist ein Opfer der
leitenden Persönlichkeiten in diesem Bereich. Es gibt leitende Persönlichkeiten,
die uns mit den besten Absichten auf den Weg zur Hölle führen.
Wenn Sie sich an die vielen Fehlschläge, Fehler und Irrwege der Medizin,
die in der Vergangenheit gemacht wurden - all diese Irrtümer und Fehler
wurden einmal von den Protagonisten der damaligen Zeit gefördert.
Und wir haben nichts aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt. Wir wiederholen
sie ständig. Vor vielen Jahren haben die führenden Persönlichkeiten
statistisches Material gefordert. p-Werte wurden also in der Literatur
ständig abgehandelt, und schliesslich hat man andere Kriterien verlangt,
ein Vertrauensintervall, was nichts anderes ist als die p-Werte. Aber es
hört sich anders an. Wenn wir p-Werte oder Vertrauensintervalle
nehmen, vergessen wir zu beurteilen, wie wichtig der Unterschied ist
oder was wir in der Behandlung vergessen haben. Und jetzt haben wir eben
die randomisierten Versuche. Und die Leute sagen, wenn es nicht auf randomisierten
Versuchen basiert, glauben sie nicht daran. Und jeder der Medizin praktiziert
weiss, dass die meisten Entscheidungen in der Patientenbetreuung eben nicht
auf randomisierten Versuchen basieren. Wir haben jetzt andere, neue Arten
von Analysen, die die randomisierten Tests wirklich in den Himmel heben.
Sie werden untereinander metaanalysiert, und wir haben einen neuen Götzen
errichtet. Und das nennen wir dann Evidence Based Medicine. Und alle Protagonisten
greifen das auf und befürworten es. Im Grunde genommen wird das alles
nur unterstützt, weil es gerade Mode ist. Wie die Chinesen sagen würden:
«Wir leben in interessanten Zeiten.»
Johannes Schmidt:
Wenn ich Dich richtig verstanden habe, sagtest Du, dass die randomisierten
Versuche angewandt wurden, um Streptomyzin zu fördern. Während
Deiner Rede habe ich an Peter Skrabanek's Buch gedacht, das heute morgen
vorgestellt wurde. Und eines der faszinierenden Dinge, die er in diesem
Buch beschreibt ist, dass im vergangenen Jahrhundert und noch zu Beginn
dieses Jahrhunderts die Patienten und die Öffentlichkeit dem Arzt
eigentlich Misstrauen entgegenbrachten. Und erst durch das Marketing der
pharmazeutischen Industrie hat sich diese kritische Einstellung zur Medizin
verändert.
Anonymus:
Ich glaube, dass wir die randomisierten Studien trotzdem brauchen.
Denn wenn wir kontrollierte Studien nicht durchgeführt hätten,
würden wir z.B. die Ursachenforschung nicht kennen. Wir würden
nicht wissen, dass radikale Mastektomie für Brustkrebspatienten nicht
notwendig oder nicht gut sind. Die randomisierten Studien haben uns nämlich
diese Antworten gebracht. Sie können natürlich nur Antworten
erbringen auf die Fragen, die wir stellen. Wenn wir also die Lebensqualität
des Patienten verbessern wollen, können wir den Patienten vor und
nach dem Versuch fragen, ob er sich besser fühlt. Und das können
wir dann als Nachweis erbringen. Das Problem, das Sie genannt haben, ist
vielleicht die Frage der Beurteilung von outcomes. Wenn man sich nur das
Laborergebnis ansieht, ist das vielleicht nicht ausreichend. Aber wenn
man nach Lebensqualität oder nach Überlebenden fragt, kann die
RCT-Methode doch positive Hilfe leisten. Ich bin der Meinung, es wäre
falsch zu sagen, dass die RCT-Methode nicht gut ist, um Antworten in der
Medizin zu finden.
Alvan Feinstein:
Nun, ich hoffe, niemand hat den Eindruck, dass ich sagte, dass die
RCTs keine gute Methode sind. Natürlich ist es eine wunderbare Technik
dann, wenn Sie einen Nutzen haben. Dann bin ich durchaus dafür. Es
gibt sehr viele wichtige Fragen, auf die dank der randomisierten Studien
Antworten gefunden wurden. Ich habe die RCTs durchaus nicht abgelehnt.
Aber ich habe die Überzeugung kritisiert, dass diese Methode die einzige
wertvolle oder nützliche Methode sei. Wenn man sagt, «Orangensaft
ist gut», dann bedeutet das nicht, dass Sie sich ausschliesslich
von Orangensaft ernähren sollten. Die RCTs sind wunderbar, um uns
die durchschnittliche Effizienz von therapeutischen Mitteln aufzuzeigen.
Und das ist alles. Mehr können sie nicht. Die langfristigen nachteiligen
Auswirkungen einer gewissen Therapie kann uns ein RCT nicht geben. Streptomyzin
hat zu Taubheit geführt. Das hat uns ein RCT vorher nicht sagen. können.
Ich bin für RCTs, aber ich möchte diejenigen kritisieren, die
sagen, dass RCTs die einzig wertvolle, die einzig mögliche Methode
ist. Die meisten Fragen, die man in der Medizin stellt, können mit
RCTs nicht beantwortet werden. Schon aufgrund der Versuchsstruktur und
ihres Aufbaus: Äpfel, Orangen, Pampelmusen, Trauben usw. müssen
zusammen gemischt werden, um dann als Obstsalat identifiziert zu werden.
Das ist objektiv! Aber wenn Sie dann die Frage stellen, ob der Zucker den
Obstsalat süsser machen wird und Sie dann aufgrund des RCTs herausfinden,
dass dies tatsächlich der Fall ist, frage ich mich, ob diese Antwort
sehr nützlich ist. Wenn Sie aber eine andere Frage stellen, können
Sie keine Antworten bekommen.
Anonymus:
Es gibt viele Möglichkeiten, z.B. in der Informatik, ein System
einzusetzen, das hilfreich sein kann. Der Informationsgehalt gewisser Methoden
wäre vielleicht wertvoller, wenn diese einen grösseren Einzugsbereich
hätten und die Informationen umfassender wären. Wir haben heute
einige Untersuchungen und Tests, aber wir haben keine allgemein gültigen
Informationen darüber, in welchem Ausmass den Patienten in unseren
Kliniken geholfen wird. Ich bin gerade dabei zu untersuchen, wieviel gesammelte
Information notwendig und möglich wäre. im Vergleich mit dem
heutigen Stand. D.h. wir haben heute eigentlich kaum die Information über
die Patienten, die es uns ermöglichen würde, wirklich ein allgemein
gültiges Auswertungssystem zu finden. Gibt es Ihrer Meinung nach eine
Möglichkeit, um dies zu erreichen? Wieviel Information können
wir sammeln und inwieweit können wir diese dann verwenden? Eine elektronische
Erfassung aller Patientendaten, eine Auszählung dieses Informationssystems
- wo hat das seine Grenzen, allgemein gesprochen und nicht nur auf die
RCTs bezogen?
Alvan Feinstein:
Das ist eine ausgezeichnete Frage. Ich werde versuchen, sie zu beantworten,
aber Sie werden die Antwort nicht mögen. Man kann natürlich sagen,
«Ich will das identifizieren, was wichtig ist, und ich will sichergehen,
dass ich die notwendigen Methoden dafür auch bekomme.» Ich habe
die begrenzte Anzahl von Variablen genannt. Wie Sie selber gesagt haben,
waren sie begrenzt, bescheiden. Ich wäre aber durchaus glücklich,
wenn wir in absehbarer Zukunft wenigstens die Information zu dieser begrenzten
Auswahl bekämen. Wenn wir Variablen identifizieren könnten, die
wir für wichtig erachten. Ich habe eine ganze Reihe identifiziert,
die nicht so beschränkt sind, wie Sie das darstellen wollten. Dann
möchte ich auch sichergehen, dass wir die Informationen bekommen,
die wir für wichtig halten, von der wir wissen, dass sie wichtig ist.
Und dass wir nicht versuchen würden, ein gigantisches Datensystem
aufzubauen, das wirklich alles erfassen würde, nicht wissend, was
von der Information wichtig und was unwichtig ist. Und die Leute, die diese
Daten in dieses System einfüttern, werden ob der Menge so verwirrt
sein, dass wir sicherlich nicht in der Lage sein werden, das alles zu analysieren.
Und vor allen Dingen werden wir nicht mehr in der Lage sein, es zu kontrollieren
und zu wissen, ob es wirklich eine gute Qualität von Information ist.
Ich wäre also eher dafür, eine beschränkte Anzahl von nützlichen
Variablen zu nehmen, um dann eine gute Qualität von Information zu
sammeln. Wenn wir das bekommen, auch wenn Sie es beschränkt oder eingeschränkt
nennen, wäre ich schon sehr glücklich. Sie würden vielleicht
eine gigantische Datenbank mit allen Informationen vorziehen. Und eines
Tages werden Sie sich dann eine Methode überlegen, wie Sie das alles
analysieren. In der Zwischenzeit wird aber all das, was Sie hineingefüttert
haben, in diesem System sein, ohne die Zuweisung irgend eines Bedeutungsgrades.
Und die Dinge, die darin enthalten sind, werden vielleicht unterschiedlicher
Bedeutung sein. Nun, vielleicht missverstehen wir uns. Ich wollte nur sagen,
dass Ihr schönes System, Ihre Taxonomie durchaus schon zuviel ist.
Ich sage nicht, dass Ihre Taxonomie eingeschränkt ist. Ich sage nur,
was wir in unserer Patienteninformation haben, das ist unzulänglich.
Und das ist natürlich nicht gut genug. Ich wollte nur zum Ausdruck
bringen, dass es für uns, die wir in diesem Bereich arbeiten notwendig
ist, dass wir uns eine Art Apgar-Einteilung einfallen lassen müssen
für die verschiedenen Bereiche unserer Tätigkeit. Damit wir dies
sinnvoll und einfach anwenden können. Ein undifferenziertes Datensystem
ist natürlich nicht das, was ich beabsichtige.
Das kann man auf zwei verschiedene Weisen bekommen. Sie können
die Patienten fragen oder Sie können eine Reihe von akademischen Kapazitäten
einberufen und gemeinsam entscheiden, was wichtig ist und dann ein Instrument
schaffen und anschliessend die notwendige Information hineinfüttern,
z.B. über das Geschlechtsleben. Es wird dann alles darin enthalten
sein, was die Akademiker vom Sexleben halten, aber nicht, was die Patienten
davon halten. Meine persönliche Auffassung ist, dass wir die Patienten
fragen sollten, ein Maximum von ihnen bekommen, ihre Beschreibungen entgegennehmen.
Und das sollten wir dann einteilen. Wir sollten also die Realität
dessen, was der Patient beschreibt, einteilen. Und das kann eingeteilt
werden, das ist nicht sehr schwierig. Anstatt dass wir irgendwelche psychometrischen
Instrumente erfinden. Jede Variable, die ich Ihnen gennant habe, kann dazu
Nachweise über die Zuverlässigkeit erbringen. Das sind nicht
randomisierte Tests. Und wenn Sie mir oder sonst jemand andere wichtige
Variablen nennen kann, bin ich gerne bereit, sie in mein System aufzunehmen.
Dr. Guo:
Eine Frage. Ich glaube, hier ist ein Widerspruch entstanden. Zu Beginn
haben Sie gesagt, dass Sie die chinesische Medizin nicht verstehen. Am
Schluss haben Sie dann gesagt, dass Qi keine Methode und auch kein Resultat
ist. Obwohl ich Ihnen zustimme in Bezug auf die Befragung der Patienten
selber frage ich mich in Bezug auf Qi gong in der chinesischen Medizin:
Wie können die vielen Krebspatienten in China Hilfe bekommen? Wir
behandeln Patienten vermehrt aufgrund ihrer eigenen Aussagen. Beziehen
ihren Lebensstil, ihre Denkweisen mit ein, und zwar sehr genau und in allen
Einzelheiten. Auch in Bezug auf den Umgang mit dem eigenen Körper.
Und auch die Beziehung zwischen den Menschen wird berücksichtigt.
All das findet Eingang in unserer Medizin. Ich glaube, wir sollten deshalb,
auch wenn wir wissenschaftlich vorgehen, mit offenem Geist sprechen und
versuchen, auch andere Dinge ganz zu verstehen, ehe wir einen Kommentar
dazu abgeben.
Alvan Feinstein:
Wenn Sie das, was Sie beschrieben haben, auch alles wirklich erreichen,
darf ich Sie nur beglückwünschen. Es ist eine der Berufskrankheiten
der heilenden Professionen, dass wir uns in Bezug auf unsere Erfolge und
Errungenschaften immer etwas vorgemacht haben. Wenn es Ihrer Gruppe gelingt,
sich nichts vorzumachen, finde ich das wunderbar.
Anonymus:
Den Prozess - also der Prozess, genügend Patienten zu befragen
und zu beschreiben, was sie sagen und diese Daten dann zu analysieren -
den Sie in Beantwortung von Dr. Steele beschrieben haben, wäre also
qualitative Forschung. Dieser Begriff wurde noch nicht erwähnt. Es
ist aber eine sehr zeitaufwendige und mühsmae Methode. Darum möchte
ich gerne wissen, was Sie davon halten?
Alvan Feinstein:
Darf ich noch einmal etwas Offensives sagen? Ich persönlich bin
der Meinung, dass diese Sache qualitativ - quantitativ ebenso ist wie die
Diskussion über die Priorität des Ei's oder des Huhns. Was versteht
man unter quantitativ? Bedeutet das, dass Information gesammelt und in
Statistiken aufgenommen wird? Z.B. von 100 Patienten geht es 10 besser.
Oder sprechen Sie über eine Messung, eine Messmethode? Z.B. so und
so viele rote Blutkörperchen sind in nullkommasowieso Prozent verändert
worden. Wenn man also von quantitativ spricht, spricht man da von Messung,
muss man in der Lage sein, dies zu messen oder spricht man nur vom zählen,
von Zahlen? Ich bin durchaus für Qualitativforschung. Und qualitativ
bedeutet für mich, dass man sich Attribute ansieht, die man nicht
notwendigerweise quantitativ messen kann. Es gibt Attribute wie z.B. Liebe,
die man nicht in Zahlen ausdrücken kann. Furcht, Angst, Schmerz -
all diese emotional bedingten Dinge. Die Gefühle, die den Menschen
vom Tier unterscheiden, können nicht in Metern oder in anderen Einheiten
gemessen werden. Wir können versuchen, sie zu identifizieren. Wir
können Einteilungsskalen erfinden dafür. Und wir können
eine Art Abgrenzung untereinander finden oder Grössenordnungen erstellen.
Wenn diese Art von deskriptivem Material, das sehr sehr wichtig ist, das
ist, was Sie unter qualitativer Forschung verstehen, dann kann ich Ihnen
nur zustimmen. Sprechen wir z.B. über Farbe: Wir haben heute gehört,
wie sich die Ärzte in der chinesischen Medizin die Zunge ihrer Patienten
ansehen. Blau oder rot, das bedeutet etwas Unterschiedliches. Farbe kann
man aber nicht messen. Man kann aber eine Farbskala erstellen, und es kann
sichergestellt werden, dass wenn man von rot spricht, man von dem gleichen
rot in der gleichen Skala spricht. Man kann also durch Beschreibung reproduzierbare,
verteilbare Systeme von Messungen bekommen. Wenn aber diese qualitative
Information in Resultate, die dann analysiert werden, umgesetzt werden
soll, muss man ein Mindestmass an Quantifizierung vornehmen: Wieviele Personen
wurden mit dieser Methode behandelt, und wie ist es ihnen ergangen? Wieviele
Personen wurden mit der anderen Methode behandelt, und wie ist es denen
ergangen? Wissenschaftler - z.B. die Anthropologen und Ethnologen, viele
Soziologen - die die qualitative Forschung so hoch in den Himmel heben,
haben durchaus recht, wenn sie über die Bedeutung ihrer Beobachtungen
sprechen. Aber sie nehmen normalerweise keine medizinischen Handlungen
vor. Wir Ärzte intervenieren ja ständig. Wir führen ja tagtäglich
medizinische Handlungen aus, und wir brauchen gewisse Daten.
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