Frauen - willige Opfer der Medizin?
Früherkennung, Hormone, Geburtsmedizin auf dem Prüfstand kritischer Wissenschaft
- Wege zu einer zeitgemässen Praxis


Autor: Murray W. Enkin
Keywords: Frauenheilkunde, evidence based medizine, klinische Forschung, Medizinkritik, Patienteninformation, Evaluation, Schwangerschaft, Geburt, Geburtsshilfe
Abstract:
Copyright: Texte: Stiftung PARACELSUS HEUTE
Copyright der HTML-Gestaltung:  Bernhard Harrer Wissenstransfer
Info Jockey's 
Comment:
Abbildungen, Diagramme und Tabellen sind erhältlich über:
Paracelsus Heute - Stiftung zeitgemässe Praxis und kritische Wissenschaft in der Medizin
Furrenmatte 4, CH-8840 Einsiedeln  Fax (+41) 055 412 53 65  Tel. 412 47 77

Autoren
Begrüßungen
Die alternde Frau
Die schwarze Madonna/Theater
Die schwangere Frau

Ottilia Grubenmann,
Hebammen im Wandel der Zeiten - 58 Jahre Hebamme
Dr. Marina Marcovich,
Medizin und Mutternähe in der Betreuung von Neugeborenen - Wieso glauben wir an die Überlegenheit der medizinischen Technik?
Dr. Ruth Baumann-Hölzle
Was ist lebenswert? - Schicksals-Ergebenheit und Macher-Sein im lebendigen Austausch
Norma M. Swenson, M.P.H.
Hebammen, die moderne Medizin und die Reform der Geburtshilfe - Die Rolle der Frauenbefreiung
Dr. Johannes G. Schmidt,
Was ist "normal" in der Schwangerschaft? - Der Routine-Ultraschall als Spielzeug für Surrogat-Diagnosen und falsch positive Befunde
Prof. Murray W. Enkin,
Wirksame Massnahmen in Schwangerschaft und Geburt - Hält sich die Praxis an dieses Wissen?
Dr. Marsden Wagner,
Wieviel Technik ist gut für die Schwangerschafts-Vorsorge? - Die Rolle sozialer Faktoren
Dagmar Ehling,
Schwangerschaft und Geburt im Lichte der traditionellen chinesischen Medizin - Woraus könnte Schwangerschafts-Vorsorge bestehen?
Die krebsgefährdete Frau
Moderne Medizin

Wirksame Massnahmen in Schwangerschaft und Geburt - Hält sich die Praxis an dieses Wissen?

(Original-Titel des englischen Vortrags: Effective care in pregnancy and childbirth - Does evidence matter?)

Prof. Murray W. Enkin
Department of Obstetrics & Gynecology and Department of Clinical Epidemiology & Biostatistics, McMaster University, Hamilton/Canada

In meinem Referat werde ich über Dinge sprechen, die eigentlich selbstverständlich und überhaupt nicht kontrovers sind. Dass die Gesundheitsversorgung effizient und wirkungsvoll sein sollte, dem würden Sie wohl alle zustimmen. Und dass das erreicht werden sollte, was erreicht werden will, und dass, um diese Ziele zu erreichen, keine komplizierten oder teuren Methoden zur Anwendung kommen sollten, wenn es einfachere Behandlungsweisen gibt, die ebenso wirksam sind. Es sollte eine angemessene und billige Methode sein, für jedermann zugänglich und nicht nur für ein paar Privilegierte. Man könnte diese Aussage als «holistisch» bezeichnen, aber sie ist eigentlich sehr vernünftig. Ich meine damit, dass die Versorgung, die die besten Gesundheitsergebnisse erzielt, sowohl physische, psychologische und soziale Aspekte miteinschliessen muss, und zwar sowohl für die Mutter wie für das Kind.
 

Mythen im medizinischen Denken

Ich habe der Technik immer ein gesundes Misstrauen entgegengebracht. Die Familie ist das Zentrum oder sollte das Zentrum unserer Bemühungen sein. Wenn wir in einer idealen Welt leben würden, wäre für jede Krankheit die wirksamste Behandlung bekannt. Jeder Kliniker würde für jeden Patienten die effizienteste Behandlungsweise kennen, und jeder Kliniker würde diese Methode auch anwenden. Leider leben wir nicht in einer idealen Welt, sondern in der realen Welt. Vieles, was wir eigentlich wissen sollten, wissen wir nicht. Und vieles, was wir dank bedeutender Forschungsarbeit wissen, wissen viele Kliniker nicht. Und selbst wenn die Kliniker wissen, was effiziente Gesundheitsversorgung ist, wenden sie diese in der Praxis nicht an.

Warum ist das so? Oft wird das Falsche untersucht. Die Forschungsprogramme entsprechen nicht immer dem, was gebraucht wird. Und selbst wenn wissenschaftlichen Untersuchungen abgeschlossen sind, sind sie nicht immer sofort verfügbar; weder in Fachkreisen noch in der Bevölkerung. Überdies spielen hier noch andere Dinge mit hinein, die eigentlich nichts mit Wissenschaft und Forschung zu tun haben.

Ich werde jetzt wieder eine recht logische Aussage machen. Nämlich, dass Frauen das bekommen wollen und Kliniker das geben wollen, was ihrer Meinung nach die effizienteste, wirkungsvollste Behandlung ist. Also ihrer Ansicht nach. Unsere Auffassung ist aber nicht immer objektiv das, was wirklich ist. Wir können das anhand einer Sinnestäuschung demonstrieren: Wir sehen hier die zwei roten Balken. Der obere Balken sieht grösser aus als der untere. Wenn wir sie aber aufeinanderlegen würden, könnten wir feststellen, dass sie genau gleich gross sind. Es ist also lediglich eine Sinnestäuschung wegen der Perspektive. Ähnlich wie eben das
Bahngleis lenken uns viele Dinge von den wirklichen Tatsachen ab. Es gibt eine Reihe von Mythen oder falschen Annahmen, die unsere Sicht vernebeln. Ich werde sie der Reihe nach behandeln.

Mythos No. 1: Zusammenhänge seien kausal

Wenn zwei Dinge gleichzeitig passieren, gehen wir davon aus, dass sie kausal miteinander verbunden sind. Z.B.: Ich war krank, jetzt bin ich gesund. Daher war die Behandlung die Ursache meiner Genesung. Oder: Es gab in den letzten zwei Jahrzehnten einen dramatischen Rückgang der Kindersterblichkeit. Dieser Rückgang ist auf die pränatale Versorgung zurückzuführen. Er kann überdies aber auch mit den elektronischen Überwachungstechniken, gesünderer Ernährung und allgemeinem Gesundheitszustand der Frauen, mit der astronomischen Zunahme des Kaiserschnitts, einer kleinen aber bedeutsamen Zunahme der Körperbehinderung oder Behinderung der Neugeborenen und der Einführung der In-vitro-Fertilisation in Verbindung gebracht werden. Er kann auch mit Gewalttätigkeit am Fernsehen und in den Strassen und den Wahlsiegen von Ronald Reagan und Brian Mulrony in Zusammenhang gebracht werden. Brian Mulrony war der meistgehasste Premierminister in der kanadischen Geschichte. So bleibt die Frage, welche dieser Assoziationen damit nun wirklich in einem kausalen Zusammenhang stehen. Und wenn wir uns das überlegen, gibt es keine Anzeichen dafür, dass zwischen irgend einer dieser Aussagen eine kausale Verbindung zu den oben genannten besteht.

Mythos No. 2: «Des Kaisers neue Kleider»

Sie kennen ja das Märchen vom Kaiser, der sich von einem Schneider ein tolles Gewand verkaufen lässt und in Wirklichkeit nackt herumläuft. Und nur der unvoreingenommene kleine Junge ruft: «Sieh mal, der Kaiser ist ja nackig!» Oder anders ausgedrückt: Wenn alle es glauben, muss es wahr sein. Nehmen wir z.B. den Mythos Familie: An einem Familienversorgungszentrum nehmen z.B. Mutter und Vater aktiv an der Geburt teil. Eine wunderschöne Erfahrung, die die Familie sehr eng miteinander zusammenwachsen lässt. Eine Familie, die in Zukunft glücklich leben wird, so nimmt man an. Sehen wir uns aber die Wirklichkeit an: Selbst wenn die ganze Familie an der Geburt teilgenommen hat, kann es vorkommen, dass die Familie auseinanderfällt, die Eltern sich scheiden lassen, die Kinder von zu Hause weggehen, ihr eigenes Leben führen. Ein Leben, das nicht dem entspricht, was die Eltern sich vorgestellt haben. Es ist also kein dauerhafter Kleister, der hier entstanden ist. Ein weiterer Mythos: Wenn Frauen während der Wehen genau überwacht werden, gibt es keine Gefahren mehr, und es wird ein neurologisch perfektes Baby, das allen Erwartungen entsprechen wird, dabei herauskommen. Das ist ein Mythos. Tatsache ist, dass elektronische Überwachung nachweislich keine Auswirkungen auf die Dinge hat, die für die Frau
wichtig sind, z.B. Todesfälle bei der Geburt, Apgar-Score oder Behinderung des Kindes. Nur weil alle daran glauben, ist es trotzdem noch nicht unbedingt richtig. Vielmehr hat die elektronische Überwachung erwiese-nermassen zu einer Zunahme der Kaiserschnitte, Infektionen im Wochenbett, zunehmendem Gefühl der Frauen, alleingelassen zu werden oder vernachlässig worden zu sein, beigetragen.

Mythos No. 3: Vorbeugen sei besser als heilen

Wenn man rechtzeitig etwas tut, kann man Schlimmeres verhindern. Wir müssen aber nachprüfen, ob das auch stimmt. Nehmen wir beispielsweise die pränatale Versorgung, das ist Überwachung und Diagnose. Und das schlimmste, was ein Arzt tun kann ist, eine Diagnose bzw. eine Untersuchung auszulassen. Aber wenn dann aufgrund der Ergebnisse eine Krankheit diagnostiziert wird, die nicht vorhanden ist, ist das auch sehr schlimm. Wir können sagen, dass keine Schwangerschaft normal ist, ausser rückblickend; und wenn wir das weiterführen: Gesundheit ist ein Zustand inadäquater oder unzureichender Diagnose. Eigentlich sollten wir uns aber die Grundsatzfrage stellen: Geht es der Mutter oder dem Kind besser, wenn sie getestet werden? Dr. Schmidt hat schon darauf hingewiesen, dass am Beispiel des Ultraschalls nachgewiesen werden konnte, dass es eben keinen Beweis dafür gibt, dass es dem Kind oder der Mutter besser geht, nur weil man routinemässige Ultraschall-Tests gemacht hat.

Mythos No. 4: Dass es für alles eine «magischen Kugel» gebe

Die Annahme, dass es für jedes Wehwehchen eine Pille gibt. Ich möchte ein Beispiel aus den fünfziger Jahren nennen, eine Werbung für Stilböstrol (ein synthetisches Gestagen). In den späten Vierzigerjahren und in den Fünfziger- und Sechzigerjahren wurde dieses Medikament zur Verhinderung von Spontanabort und von allen möglichen anderen Krankheiten, u.a. auch Diabetes, verwendet. Aber das genügte noch nicht. Man machte auch Werbung dafür, dass «normale» Frauen es ebenfalls nehmen sollten, um allen erdenklichen Krankheiten vorzubeugen. Z.B. als Prophylaxe bei allen Schwangerschaften für eine leichte Geburt und um die Kinder stärker und gesünder zu machen. Wie sieht das nun tatsächlich aus? In den Vierzigerjahren wurde eine Untersuchung durchgeführt, die angeblich zum Ergebnis führte, dass ein Nutzen zu erwarten wäre. 1950 wurde dann eine weitere Untersuchung durchgeführt, die angeblich einen noch grösseren Nutzen nachweisen wollte, und in den Sechzigerjahren haben in den Vereinigten Staaten mehr als 2 Millionen schwangere Frauen dieses Medikament verwendet. In den Siebzigerjahren konnte dann der Zusammenhang nachgewiesen werden zwischen der Einnahme von Stilböstrol und Vaginalkrebs bei den Nachkommen. Das ist natürlich eine schreckliche Tragödie. Aber man hätte so etwas nicht vorhersagen können. Es wirkt sich ja erst in der nachfolgenden Generation aus. Die wirkliche Tragödie in Zusammenhang mit Stilböstrol ist aber, dass man schon zwischen 1953 und 1955 herausfand, dass es die Komplikationen, die es zu verhindern vorgab, nicht reduzierte, sondern sogar erhöhte. Die Tragödie, die dann am Ende bekannt wurde, wäre sicher schon früher herausgekommen, wenn wir bereits damals erkannt hätten, dass es ein nutzloses Medikament war. Wir hätten nicht voraussagen können, dass es tatsächlich schädlich ist, aber wir hätten zumindest den Schluss ziehen können, dass es nutzlos ist.

Mythos No. 5: Die Autorität

Der Arzt weiss alles besser. Aufgrund dieses Mythos haben wir hier den Doktor auf den Stuhl Lincolns gesetzt, und die Frau blickt ehrfurchtsvoll zu ihm auf: «Es muss wahr sein, weil ich das im New England Journal of Medicine gelesen habe», ist der Fehlschluss. Ich glaube, Paracelsus hat es noch besser, besser als sonst jemand ausgedrückt. Er sagte damals: «Wenn ich etwas nachweisen will, werde ich es nicht tun, indem ich die Autoritäten zitiere, sondern indem ich experimentiere und dann argumentiere.»

Mythos No. 6: Erfahrung

Klinische Erfahrung ist so wertvoll, aber auch gleichzeitig der schlimmste Mythos, der uns oft völlig in die Irre geführt hat. So zeigt die «Erfahrung» von Geburtshelfern, dass ein Kaiserschnitt äusserst sicher ist; mütterliche Todesfälle treten in einer Gynäkologen-Karriere praktisch nicht auf. Zuverlässige Untersuchungen zeigen aber, dass mütterliche Todesfälle unter Kaiserschnitt zwei- bis viermal häufiger sind als bei vaginaler Entbindung, auch wenn keinerlei mütterliche Vor-Komplikationen vorhanden sind. Nach der «Erfahrung» vieler Hebammen könnte es sein, dass medikamentöse Geburtseinleitungen (bei überlanger Schwangerschaftsdauer) mit mehr Kaiserschnitten verbunden sind, kontrollierte Studien zeigen aber im Gegenteil, dass eine Geburtseinleitung nach 41 Wochen am Schluss mit weniger Kaiserschnitten verbunden ist als ein abwartendes Vorgehen. Oft führt die «Erfahrung» also nur dazu, dass wir Fehler mit einer grösseren Leichtigkeit begehen.
 

Wie lassen sich Fehlschlüsse vermeiden?

Die Kunst der Geburtshilfe ist tot. Geburtshilfe ist eine wissenschaftliche Disziplin geworden. Ein Paradoxon, das konsterniert. An der wissenschaftlichen Geburtshilfe wird nämlich ernsthafte Kritik in einer Zeit geübt, wo die Erfolge auf dem Höhepunkt zu sein scheinen. Wir hätten das auch mit der Müttersterblichkeit oder der Kindersterblichkeit bei der Geburt tun können. Wir sehen, dass hier ein dramatischer und kontinuierlicher Rückgang zu einem wirklich geringfügigen Minimum festzustellen ist. Also müssten wir doch auch zu dem Schluss kommen können, dass wir irgend etwas auch richtig machen. Ich glaube, das wird auch niemand in Frage stellen. Irgend etwas werden wir schon richtig machen, aber wir machen eben auch sehr viele Dinge falsch. Wir wissen, dass in der Geburtshilfe ein Grossteil der angewandten Praktiken Dinge umfassen, die für die Frau nur eine Einschränkung ihrer Auswahlmöglichkeiten und eine unnötige Belastung bedeuten, unnötige invasive Behandlungsweisen sind. Unsere Aufgabe als Wissenschaftler, Forscher, Praktiker oder als Frauen ist es herauszufinden, welche Massnahmen Frau und Kind wirklich helfen und diese Massnahmen dann, in geeigneter Weise, und nur dann, anzuwenden.

Wenn unsere Aufgabe darin besteht zu lernen, welche Behandlungsweisen wirksam sind und welche nicht, müssen wir uns die Frage stellen, wie wir die richtigen ermitteln, wie wir das lernen können. Es gibt zweierlei Möglichkeiten, dies zu tun. Einmal durch einen informellen Eindruck und dann auch durch formale Untersuchungen. Informelle Eindrücke können entweder auf persönliche Erfahrungen oder auf die Erfahrungen anderer zurückgehen oder auf früher Gelerntes, auf Ratschlag von Experten, auf Werbung, andere Formen der Erziehung oder Bildung. Manchmal sind diese informellen Eindrücke richtig und wurden mitunter auch aufgrund weiterer Untersuchungen erhärtet. Aber leider ist es auch so, dass mehrere von diesen informellen
Eindrücken falsch sind.

Und so kommen wir zu weiteren Möglichkeiten formeller Untersuchungen. Wenn informelle Eindrücke sich als falsch erwiesen haben, dann müssen wir die Sache formal, d.h. gründlich untersuchen oder auswerten. Eine Methode sind z.B. Beobachtungsstudien. Im einfachen Falle kann es die Untersuchung eines einzigen Krankheitsfalls sein oder eine ganze Reihe von Fallbeispielen, die möglichst neutral und objektiv sind. Untersuchungen des Zustands vorher und nachher. Aber trotzdem bleibt noch das Problem, ob gleichzeitig sonst noch irgend etwas geschehen ist, was wir vielleicht vernachlässigt haben und das Ergebnis eventuell beeinflusst hat. Selbst bei sich konkurrierenden Kohorten-Untersuchungen - wenn z.B. zwei Gruppen von Frauen in zwei verschiedenen Krankenhäusern untersucht werden - können Unterschiede in der Praxis der Krankenhäuser einen Einfluss haben oder auch die Verschiedenartigkeit der Frauen, die sich für den Verbleib in dem einen oder andern Krankenhaus ausgesprochen haben. All das beeinflusst die Ergebnisse der Untersuchung.

Man muss also zusätzliche experimentelle Untersuchungen und randomisiert kontrollierte Untersuchungen (RCT's) durchführen, um falsche Schlussfolgerungen zwar nicht ausschliessen, aber doch zumindest reduzieren zu können. Zu den RCT's: Wie Dr. Feinstein bereits ausgeführt hat (vgl. sein Vortrag in Teil 4), ist die Art der Fragen, die RCT's beantworten können, beschränkt. Oft ist es aber genau das, was wir brauchen, was wir wissen müssen. Die RCT's sind natürlich nicht geeignet, auf Fragen Antworten zu geben, die sie nicht beantworten können. Das ist klar. Aber wenn wir zu entscheiden haben zwischen verschiedenen Behandlungsmethoden wollen wir z.B. wissen, welches die Auswirkungen der einen und die Auswirkungen der anderen Methode sind. Und das können die RCT's.

Die Ergebnisse einer Untersuchung enthalten drei Komponenten: (1) Die Wahrheit, wie immer sie aussehen mag; (2) ein Zufalls-Fehler, eine Täuschung, der auf den Zufall zurückzuführen ist; (3) ein systematischer Fehler, ein Bias, der auf systematische Fehlerquellen zurückzuführen ist. Ich zeige hier zwei Arten von Fehlern. Bei dem Bild links ist die Wahrheit als senkrechte Linie in der Mitte eingezeichnet. Und dann der Zufalls-Fehler. Das bedeutet, dass man in einer Untersuchung wenig oder viel von der Wahrheit abweichen kann. Einige der Ergebnisse befinden sich vielleicht eher rechts, andere eher links auf der Geraden. Durchschnittlich konzentrieren sie sich mehr oder weniger um die Wahrheit herum. Zufalls-Fehler sind also nicht so schlimm, wenn die Studie umfassend oder anzahlmässig gross ist. Aber das Ergebnis ist nicht präzise. Die Wahrheit wird also vielleicht nicht exakt herauskommen. In einem anderen Fall werden wir mit einem systematischen Fehler (Bias) ein vielleicht sehr genaues Ergebnis erzielen können, das sich aber - die Striche sind alle in einem Bündel - doch ziemlich weit von der Wahrheit entfernt befindet.

Die Randomisierung schützt gegen bekannte und unbekannte Biases. Man muss annehmen, dass der Grund, warum nicht randomisierte Untersuchungen die grösseren Behandlungseffekte zeigen, darin liegt, dass solche systematische Fehler hier nicht so stark ins Gewicht fallen. Viele sagen, dass Randomisierung unethisch sei. Ich würde sagen, es ist die ethischste Form der Einführung oder Anwendung einer Therapie oder eines diagnostischen Verfahrens. Wenn wir sicher
sind, dass etwas richtig ist, dann sollten wir es tun. Wenn wir sicher sind, dass etwas nicht gut oder richtig ist, dann sollten wir es nicht tun. Und wenn wir nicht sicher sind, dann sollten wir versuchen herauszufinden, was wir tun sollten. Und die einzige Möglichkeit ist ein objektiver Vergleich zwischen zwei Alternativen. Das ist doch eine faire Art und Weise, vorzugehen. Es ist die einzige Art und Weise, wie man vorgehen kann. Aber wir müssen natürlich auch sicher sein, dass wir sicher sind. Oft geben wir vor, sicher zu sein, und in Wirklichkeit haben wir unrecht. Ein amerikanischer Philosophe, Roger, sagte: «Es sind nicht die Dinge, die ich nicht weiss, die mich stören. Es sind die Dinge, die ich weiss, die mich beunruhigen.» Wenn wir akzeptieren, dass die RCT's der Goldstandard sind und uns die wertvollste und verlässlichste Information über die Auswirkungen der Behandlung geben, müssen wir uns fragen, warum sie so selten zur Anwendung kommen.
 

Systematische Übersichten

Selbst wenn aber RCT's durchgeführt wurde, sind die Ergebnisse oft nur verstreut in Hunderten von Fachzeitschriften zu finden. Es ist für die Praktiker ausserordentlich schwierig, sie zusammenzutragen, zu lesen und auszuwerten. Überdies stimmen die Ergebnisse auch nicht überein. Wir müssen uns also auf übersichtlich dargestellte Berichte von Forschungsergebnissen verlassen können. Aber eine solche Übersicht muss systematisch vorgehen. Es kann nicht einfach eine willkürliche Auswahl von Artikeln sein, die zufällig meiner Auffassung entsprechen. In einer systematischen Zusammenfassung oder einem systematischen Überblick müssen wir möglichst umfassend sein. Wir müssen genaue Kriterien für die Auswahl der Untersuchungen haben, die in diese Zusammenfassung Eingang finden sollen. Und diese Kriterien müssen zugänglich sein und begründet werden können. Die Suche nach diesen Forschungsstudien sollte umfassend sein und nicht nur z.B. die englischsprachige Presse und grosse Fachzeitschriften berücksichtigen, sondern alle Publikationen, die zu diesem Thema veröffentlicht wurden. Jede Untersuchung muss kritisch betrachtet werden, um zu beurteilen, ob sie etwas wert ist. Und schliesslich müssen all diese Dinge zusammengetragen werden, und es muss ein strukturierter Bericht daraus entstehen, der publiziert wird und auch kritisiert werden kann.

Meine Kollegen und ich - das ist ein bisschen Eigenwerbung - arbeiten seit 16 Jahren an diesem Problem. Wir haben die Ergebnisse unserer Studien in Form einer zweibändigen Enzyklopädie herausgegeben. Inzwischen ist es nicht nur in Buchform erhältlich, sondern, auf den neusten Stand gebracht, auch via PC zugänglich bzw. abrufbar. Dazu gibt es ein begleitendes Paperback, das etwas leichter zu handhaben ist, als das grosse zweibändige Werk.

Wir haben versucht, alle Arten von Betreuung und Behandlung, über die wir Untersuchungen zusammentragen konnten, zu berücksichtigen:
1) Behandlungsformen, deren Wirksamkeit mittels Kontrollierten Versuchen nachgewiesen wurde.
2) Behandlungsformen, die wahrscheinlich erfolgreich oder wirkungsvoll sind, deren Nachweis aber noch nicht erbracht wurde.
3) Behandlungsformen, bei denen viele oder mehrere Auswirkungen bekannt sind, sowohl die positiven als auch die negativen, so dass die behandelnden Ärzte und die Patientinnen diese Informationen dann für ihre eigene Entscheidung nutzen können.
4) Behandlungsformen, deren Wirksamkeit nicht bekannt ist und Untersuchungen, die unzureichend sind oder deren Ergebnisse nicht vorliegen.
5) Behandlungsformen, die wahrscheinlich nicht wirksam, aber nicht unbedingt schon abzulehnen sind.
6) Behandlungsformen, die aller Wahrscheinlichkeit nach unwirksam oder sogar schädlich sind und bei denen wir überzeugt sind, dass sie eigentlich nicht verwendet werden sollten.
 

Welche Geburtshilfe ist nützlich?

Tabelle 1 enthält erfolgversprechende Behandlungsformen mit nachweislich guter Wirksamkeit, z.B.: Unterstützung für sozial benachteiligte Mütter; Notizen machen über Zustand, Fortschritte und Behandlungsergebnisse, damit sie diese bei Bedarf jederzeit zur Hand sind; prä- und peri-konzeptuelle Folsäure-Einnahme; Programme zur Einstellung des Rauchens während der Schwangerschaft.

In Tabelle 2 sind Dinge aufgenommen worden, die unserer Meinung nach wahrscheinlich erfolgreich oder wirksam sind: Möglichkeit der Inanspruchnahme von Betreuung für schwangere Frauen, Beratung durch Hebammen, Beratung zur Einstellung von Alkoholkonsum, Vermeidung von schwerer körperlicher Arbeit usw. Es ist eine lange Liste von all den Dingen, die unserer Ansicht nach mit allergrösster Wahrscheinlichkeit von Vorteil für die schwangere Frau sind, wofür wir aber noch nicht hundertprozentig harte Nachweise haben.

Tabelle 3 enthält Massnahmen, bei denen sich Vor- und Nachteile die Waage halten: Kontinuität in der Betreuung oder Behandlung beispielsweise. Wir dachten, dass das in jedem Fall positiv ist, obwohl es vielleicht auch Nachteile haben kann. Wenn man nämlich zufällig einen behandelnden Arzt hat, der nicht zufriedenstellend ist, ist es besser, den Arzt zu wechseln. Dann Gesetzgebung in Bezug auf Anstellungsbedingungen und Arbeitsmöglichkeiten für schwangere Frauen, routinemässige Ultraschalluntersuchungen. Es sind Vorteile aber auch Nachteile davon abzuleiten. Natürlich ist es für die schwangere Frau sehr schön, ihr Kind schon ganz früh im Bauch sehen zu können. Aber es gibt auch Nachteile
oder jedenfalls unsichere oder fragliche Ergebnisse. Mit CVS im Vergleich zur Amniocentese ist zwar eine Dia-gnose in einem früheren Zeitpunkt möglich, aber sie birgt auch ein grösseres Risiko. Das Zählen der Fötalbewegungen führt zu einer, zwar sehr geringen, Reduzierung der Spontanaborte, belastet aber die Frau emotional - Befürchtungen, Ängste, Sorgen usw. - sehr stark.

Tabelle 4: Unbekannte Wirksamkeit: Das ist eine sehr lange Liste. Anwendung von Akupressur gegen Unwohlsein und Brechreiz; Gestagene zur Verhinderung von Spontanaborten; Bettruhe bei Präeklampsie; Bettruhe bei Wachstumsverzögerung des Fötus; usw. Eine lange Liste von Massnahmen, deren Wirksamkeit sehr unsicher ist.

Tabelle 5: Massnahmen oder Behandlungsweisen, die unserer Ansicht nach wahrscheinlich keinen Vorteil bringen: Z.B. routinemässige Beiziehung eines Arztes bei allen Schwangerschaften (statt Schwangerschaftsbetreuung und Geburtsleitung durch Hebamme allein).

Und schliesslich Tabelle 6: Nicht wirksame und schädliche Praktiken, die trotzdem immer noch angewandt werden: Z.B. eine bestimmte strikte Diät, um Präeklampsie vorzubeugen; Kontraktionstests; Kardiotokographie (Wehenschreiber); Alkohol zur Verhinderung von Wehen vor Ablauf der Schwangerschaft; usw. Einige dieser Methoden werden nach wie vor immer noch angewandt, obwohl sie wenig erfolgversprechend sind.
 

Sachgerechte Wissenschaft = Weniger Medizin

Ich möchte mit einem letzten Gedanken abschliessen: Die Kunst der Geburtshilfe ist nicht tot, sondern erfreut sich bester Gesundheit. Es ist die Wissenschaft der Geburtshilfe, die neu belebt werden muss. Wenn wir uns genau das ansehen, was wir tun und die Beweise akzeptieren in Bezug auf die Vorteile und Nachteile dessen, was wir tun, dann machen wir insgesamt wahrscheinlich viel weniger an unnötigen medizinischen Massnahmen.

Literatur: A Guide to Effective Care in Pregnancy & Childbirth von Murray Enkin, Marc JNC Keirse et al. Oxford University Press 1995 (2nd edition)
 
 
zum Anfang

Layout: Datadiwan eMail: webmeister@datadiwan.de